Bauwelt

StAbisZ

Ein kleines Alphabet des Architekten

Text: Merz, HG, Berlin/Stuttgart

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Foto: Udo Meinel

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Ein kleines Alphabet des Architekten

Text: Merz, HG, Berlin/Stuttgart

Achse | Nicht die „Achse des Bösen“, eher die „Achse des Guten“. Lindenhalle – Ehrenhof – Vestibül – Lesesaal, diese, von Ernst von Ihne angelegte, so lange vermisste Direttissima erhält durch den neuen Le­sesaal wieder ihr tradier­tes Ziel.
Büchertürme | Ein hilfloses Zwischenstadium. Der im Krieg zerstörte Lesesaal wird durch Lagerflächen, durch LPG-Silos ersetzt. Mit einem banalen Bücherspeicher wird der Leser des würdigen Platzes seiner Leidenschaft beraubt, der gesamte Organismus Staatsbibliothek ins Wachkoma versetzt.
Carrel | Forschen und lesen wie in der Oper. Einfach Platz nehmen in einer Loge oberhalb der umtriebigen Stille. Als Intermezzo den wun­derschönen Ausblick auf die Akteure des Saals genießen. Bitte in dieser privilegierten Situation das Opernglas nicht vergessen!
DUB CEK | Graffito auf der Rückseite der Staatsbib­liothek, vermutlich vom Sohn Robert Havemanns. Diesen bescheidenen Widerstand aus der Zeit des „Prager Frühlings“ haben wir gerne zusammen mit den Denkmalschützern gehalten und konserviert.
Erziehungsmaßnahmen | Projektbegleitender, leider sehr einseitiger Vorgang, dem vor allem die Architekten unterworfen waren. Man kennt das leidvoll aus der Familie: Der Eine schaltet auf den Erziehungsmodus, der Andere auf trotziges Kind.
Fortschreibung | Brûler les étapes – so könnte dieses Kapitel der Geschichte des Lesesaals wohl besser überschrieben werden. Einfach jeden Ärger der Zeit von 1944 bis 2011 vergessen. Statt­dessen nahtlos aus dem steinernen „kaiserlichen Reichsberlin“ in die transluzente Gegenwart übergehen.
Glas | „Wir leben zumeist in geschlossenen Räumen. Diese bilden das Milieu, aus dem unsre Kultur herauswächst. Unsre Kultur ist gewissermaßen ein Produkt unsrer Ar­chitektur. Wollen wir unsre Kultur auf ein höheres Niveau bringen, so sind wir wohl oder übel gezwungen, unsre Architektur umzuwandeln. Und dieses wird uns nur dann möglich sein, wenn wir den Räumen, in denen wir leben, das Geschlossene nehmen.“ Paul Scheerbart, Glasarchitektur (1914)
Himmel | ... schon der über Berlin, aber nicht mit Goldelse und Bruno Ganz, sondern einfach nur Luft, viel Luft, die einem Innenhof mitten in der Stadt seine Enge nimmt, ihn rundherum leuchten lässt und – das Wichtigste – den Gedanken Raum gibt.
Insolvenz | Zum Glück nur sel­ten vorgekommen, aber häufig mit einem drohenden Summen im Orbit. Die Angst vor der Insolvenz eines Beteiligten hat den dramatischen Spannungsbogen bis zum Schluss nicht abfallen lassen.
Jambus | Auf eine „leichte“ folgt eine „schwere“ Silbe. Auf die freudige Erleichterung, die Lösung einer schwierigen Aufgabe gefunden zu haben, folgt die Schwermut, sie vom Falschen umgesetzt zu sehen.
Kosten | Ein leidiges Thema. Ist der Rahmen noch gehal­ten, oder liegen die Kosten bereits weit darüber? Klare Auskünfte waren für die Architekten selten zu erhalten. Tja, Herrschaftswissen muss gepflegt werden.
Licht | Das wesentliche Element des neuen Lesesaals. Über der hölzernen, mit Büchern gefüllten Schale erhebt sich ein Lichtkörper, verleiht dem Saal eine einzig­artige Atmosphäre. Anstelle der praktisch-kleinlichen Arbeitsinsel lädt ein weiträumiges, leuchtendes Volumen zum Lesen ein.
Missing Link | Gemeint ist nicht das fehlende Bindeglied zwischen Affe und Mensch, nein, es ist das zwischen Buch und Leser: der Lesesaal! Fast fünfzig Jahre lang fehlte der würdige Ort für das Zelebrieren des Lesens, dieser schönsten Leidenschaft menschlichen Geistes. Negativ | Nicht die weniger schönen Ereignisse während des Planungs- und Bauprozesses sollen unter diesem Stichwort behandelt werden. Im Gegenteil: Die heißverformte Glasfassade wird mit Nega­tivabdrücken hergestellt. Ähnlich den Fasern in hochwertigem Papier bilden sie das Dekor, über welchem die Glas­scheiben zum posi­tiven Re­lief verformt werden.
Orange | „Gelbroth“ oder „Rothgelb“: nach der Goethe’schen Farbenlehre immer eine edle Farbe. Als bestimmende Bodenfarbe ergänzt sie im Lesesaal das „rosenholzartige“ Furnier der umgebenden Bücherschale. Die Frische, Freude und Fröhlichkeit des Orange möge die Leser sti­mulieren und ihre Lust am Lesen verstärken.
Projektsteuerung | Eigentlich geht ja alles ganz einfach, günstig und schnell. Und mit den richtigen Maßnahmen kann man sogar Architekten erziehen ... „werch ein illtum“.
Qualität | „there is a fleck on the flag“, nochmals Ernst Jandl, ironischer kann man es nicht ausdrücken. Immer das Beste wollend, zur Perfektion strebend, müssen die Architekten doch so manchen „Schmutzfleck“ in Kauf nehmen und bekennen: Nicht immer sind nur die Anderen schuld!
Rara | Des Architekten lieb­ster Raum. Eine bescheidene und doch großzügige Meange von Alt und Neu. Nicht der Hochpunkt, aber ein Hö­hepunkt. Eine erlebnisreiche Sackgasse für das Studium der edlen und seltenen Schätze der Bibliothek, direkt auf dem Museum, der „Basis“, errichtet.
Schatten | Eigenschatten, Halbschatten, Schlagschatten: Die Glasfassade, die in ihrer industriellen Anmutung an die Klinkerfassaden der Höfe erinnert, gerät fast dramatisch in optische Bewegung. Mit ihren Schatten bringen die „Fasern“ der verformten Gläser die Sonne ins Innere des Raums. Schattenspiele auf den völlig reduzierten Oberflächen projizieren Stimmungen, die sich in ihrer Vielfalt und Zufälligkeit in einen bewussten Gegensatz zur rationalen Architektur stellen.
Termine | Gerne würde man, zum eigenen Schutz, dieses Wort als „Unwort“ bezeichnen, zum Unwort des Jahres küren, noch besser: komplett aus dem Wortschatz streichen. Vergebliches Unterfangen: Es gab so viele Gründe für die Nichteinhaltung von T..., das Wort ist unvermeidlich, der Versuch, es zu verwerfen unglaubwürdig – sei’s drum.
Unvorhergesehenes | „expect the unexpected“ – beim Umgang mit alten Häusern sollte man sich die Plattitüden der Werbebranche zu Herzen nehmen. Viele, sehr viele unvorhergesehene Störungen (die nicht vorhersehbaren „in­neren Werte“ des Hauses, die teilweise dürftige Ethik der Ausführenden und so weiter und so weiter) konterkarieren den positiven Aspekt des Unvorhergesehenen – den der Überraschung.
Vestibül | Ach, wie schön wäre es gewesen, dieses Entrée zum Leesaal weiträumig, großzügig, einfach leer zu sehen. Leider muss man aber manchen Besuchern eine gewisse Niedertracht im Umgang mit Informationsträgern unterstellen. Eigentum und Besitz werden seltsamerweise immer wieder verwechselt, und so wird das Vestibül rigide abgesperrt und kontrolliert – zum Glück nicht ganz so respektheischend wie im „Berghain“.
Wahrnehmung | Die ist, je nach Zielgruppe und Institution, sehr unterschiedlich. Die Aufmerksamkeit des Architekten beschränkt sich im Wesentlichen auf die der künftigen Saalnutzer: Luft, Licht, Schattenspiele, unterschiedliche Blickbeziehungen und das fürs 19.Jahrhundert so charakteristische Arbeiten in einem großen Verbund werden die Wahrnehmung der Leser bestimmen und die Staatsbibliothek in ihrer Einzigartigkeit stärken.
Xanthippe | In der griechischen Tragödie übernehmen Männer die Frauenrollen, so auch bei diesem Projekt.
Um der diesem „reizenden“ Namen anhaftenden Einseitigkeit vorzubeugen und unseren Weg zur Neugestaltung der Lindenoper verständlich zu machen, lassen wir lieber Nietzsche sprechen: „Sokrates fand eine Frau, wie er sie brauchte –, aber auch er hätte sie nicht gesucht, falls er sie gut genug gekannt hätte: So weit wäre auch der Heroismus dieses freien Gei­stes nicht gegangen. Tatsächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigentümlichen Beruf immer mehr hinein, in- dem sie ihm Haus und Heim unhäuslich und unheimlich machte: Sie lehrte ihn, auf den Gassen und überall dort zu leben, wo man schwätzen und müßig sein konnte und bildete ihn damit zum größten athenischen Gassen-Dialektiker aus.“  Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzu­menschliches (1878)
Yoga | Ou chaleur! – der Lesesaal leuchtet zwar, aber Erleuchtung war der Arbeit nicht immer beschieden. Wegbegleitende Meditation und Askese wären für alle Beteiligten wohl hilfreich gewesen, leider konnte man sich über den Pfad zur Erleuchtung nicht einigen. Also ließ man das Spirituelle beiseite und sortierte das tägliche Chaos ohne die höheren Weihen. Dem Stehvermögen der planenden Architekten war dies nicht zuträglich, nur wenige hielten von Beginn bis zum Ende durch. Elf Jahre Planungs- und Bauzeit entsprechen einem Viertel des Berufslebens – zu lang!
Zulassung | Wird eine Zulassung im Einzelfall notwen­dig, sträuben sich dem Bauherren die Nackenhaare. Die Fassade des Lesesaals war aber ohne eine solche nicht zu machen. Mal wurde sie erteilt, mal wurde sie verweigert – viel, viel Ärger. Leicht resigniertes Fazit: Immer noch lässt sich architektonische Individualität und Originalität nicht ohne weiteres in den behördlichen Alltag integrieren.

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