Spitzbögen, Silos, Knesset
Ossip Klarwein war schon als Büroleiter des Backsteinexpressionisten Fritz Höger ein Vertreter der Avantgarde. Nach der Emigration im Jahr 1933 prägte er die Architektur des jungen Staates Israel maßgeblich mit. Eine monografische Ausstellung in Berlin
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Spitzbögen, Silos, Knesset
Ossip Klarwein war schon als Büroleiter des Backsteinexpressionisten Fritz Höger ein Vertreter der Avantgarde. Nach der Emigration im Jahr 1933 prägte er die Architektur des jungen Staates Israel maßgeblich mit. Eine monografische Ausstellung in Berlin
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Ein richtiger Stadtplatz ist der Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf nicht mehr, seit der Hohenzollerndamm in Gestalt einer mehrspurigen Autoverkehrsschneise an ihm entlangführt. Doch besitzt er den Vorzug einer unverkennbaren Dominante: einer Kirche mit hoch aufragendem Turm.
Die Kirche am Hohenzollernplatz, die tatsächlich so heißt und keinen Heiligen im Namen führt, beeindruckt auf den ersten Blick durch ihre monumentale Größe. 60 Meter hoch erhebt sich der Turm, und das langgestreckte Kirchenschiff überragt mit seinem Satteldach die umliegenden Wohnbauten mit ihrer gewohnten Traufhöhe. Sie wird, ihrer braunen Mauerwerksfassaden wegen, gern als Backsteinkirche bezeichnet. Tatsächlich bestehen die Fassaden aus hartgebrannten Klinkern, die, anders als gewöhnliche Ziegel, im Sonnenschein ein irisierendes Lichtspiel zeigen. Im Innern staffelt sich eine dichte Folge von dreizehn Spitzbögen, die das Dach tragen; ganz im Sinne des Spätexpressionismus, der nach dem Ersten Weltkrieg entstand und sich an Formen der Gotik orientierte.
Bislang galt Fritz Höger, der Schöpfer des Hamburger „Chilehauses“ und Hauptvertreter des Backstein-Expressionismus, als Architekt der Kirche. In seinem Hamburger Büro arbeitete ab 1927 Ossip Klarwein, der rasch zu Högers Büroleiter aufstieg – und damit maßgeblich an Entwürfen beteiligt war. Es fanden sich Entwurfszeichnungen in dicken schwarzen Strichen, die mit einem verschränkten „OK“ unterzeichnet sind – für Ossip Klarwein.
Wer war Ossip Klarwein? Geboren wurde er 1893 in Warschau von jüdischen Eltern; ein Foto zeigt den Zwölfjährigen im Kreis einer bürgerlichen Familie. „Der zukünftige Atheist Ossip Klarwein“, steht im Katalog, „wird Architektur studieren und zum Katholizismus konvertieren, er wird in Deutschland evangelische Kirchen bauen und in Israel die Knesset entwerfen.“ In diesem einen Satz ist das ganze Leben Klarweins umrissen: Er übersiedelt mit der Familie nach Deutschland, studiert hier, heiratet 1924 evangelisch und avanciert 1927 beim berühmten Fritz Höger in Hamburg zum Büroleiter. 1933 ist er arbeitslos – er kommt der Entlassung durch den zunehmend NS-gesinnten Höger zuvor. Damit endet seine Laufbahn in Deutschland.
In einer Ausstellung im Inneren der Kirche am Hohenzollernplatz ist derzeit auf Stelltafeln auf zartblauem Hintergrund chronologisch dargestellt, wie sich Ossip Klarweins Werdegang von den Anfängen in Deutschland bis zu seiner späteren Tätigkeit in Palästina und Israel entwickelte. Die Schau ist das Ergebnis einer dreijährigen Forschungsarbeit von Jacqueline Hénard, finanziert von sieben Stiftungen, ohne öffentliche Gelder. Reine Liebhaberei also, und das im besten Sinne.
Keine Originale, mit Ausnahme eines Modells des Knesset-Entwurfs; das größte Original ist schließlich die Kirche selbst, die man in ihrem subtilen Zusammenklang von Spitzbögen aus unverkleidetem, in der Höhe bläulich gestrichenen Beton, stahlblauen, an den Rändern bronzen glitzernden Klinkern und den seitlichen Farbfenstern – insbesondere jenem, das hinter dem Altar in die Höhe schießt – ganz neu wahrnimmt. Es wirkt wie ein umgedrehtes Schiff, kieloben; ein Effekt, den schon die gotischen Baumeister Venedigs zu nutzen wussten.
Die eigentliche Überraschung betrifft jedoch die Autorschaft. Zwar hatte Höger erste Skizzen gefertigt, mit denen er den Gemeindekirchenrat 1929 zur Auftragserteilung bewegen konnte. Doch Archivalien und von Hénard ausgewertete Entwurfszeichnungen zeigen: „Kubatur, Konstruktionssystem und die Gesamtwirkung des Innenraums sind das Werk von Klarwein. Die Gestaltung des Außenbaus ist ein Gemeinschaftswerk, die Innendekoration übernahm Höger allein.“ Am 19. März 1933, Hitler war bereits an der Macht, fand die Einweihung statt. Der Volksmund spricht vom „Kraftwerk Gottes“.
Diese Differenzierung lässt nun auch andere Bauten des Büros Höger ab dem Jahr 1927 in anderem Licht erscheinen. Klarwein war mit Högers Formensprache als sein Chefarchitekt naturgemäß vertraut. Es wird kaum möglich sein, Bauten wie die Konsumzentrale in Leipzig oder das Rathaus von Wilhelmshaven streng alternativ dem einen oder dem anderen Baumeister – wie der unstudierte Höger sich selbst bezeichnete – zuzuschreiben.
Doch 1933 bedeutete für Klarwein nicht nur das Ende seiner deutschen Karriere, sondern eine existenzielle Zäsur: Als Jude ohne Zukunftsperspektive im nationalsozialistischen Deutschland emigrierte er im November ins britisch verwaltete Mandatsgebiet Palästina – seit 1948 der Staat Israel. Damit begann für ihn eine völlig neue Schaffensphase – und der Neubeginn gelang ihm in bemerkenswert kurzer Zeit. Viel baut er in der nördlichen Hafenstadt Haifa. Hier entsteht ab 1952 in mehreren Bauabschnitten über zwanzig Jahre der riesige Getreidespeicher „Dagon Silos“, lange Zeit ein Wahrzeichen der Stadt und des auf Weizenimport angewiesenen Landes. Bis zu seinem Tod arbeitet Klarwein an der Gestaltung und Veränderung der dekorativen Bekrönung des langgestreckten, durch einen Eckturm betonten Komplexes.
Der nördlich von Haifa am Meer gelegene Ort Nahariya – eine Gründung von Einwanderern – baute er zum „Seebad der Jeckes“ aus, der aus Deutschland stammenden Juden. Gleich neben dem Strand entwarf er ein Freibad von olympischen Ausmaßen. Nach Nahariya kehrte er zwanzig Jahre später nochmals zurück, um der stark gewachsenen Ortschaft ein städtisches Zentrum zu geben, samt einem Kino- und Konzertsaal mit 1080 Plätzen. Kaum etwas davon ist erhalten, und schon gar nicht im Ursprungszustand; man muss es der Dynamik eines jungen, nur nach vorn blickenden Landes zuschreiben.
In Israel lebt und arbeitet Klarwein, nun mit Vornamen Joseph, unter beengten Verhältnissen. Noch 1952 muss er sich in Jerusalem mit seiner (zweiten) Ehefrau mit zwei Zimmern begnügen; ein drittes für seine Mitarbeiter wird erst auf politische Fürsprache hin von der Wohnungsverwaltung bewilligt.
Schließlich kommt es zum krönenden Auftrag im Leben Klarweins. Nachdem er bereits seit den frühen 1950er Jahren mit Überlegungen zum geplanten Regierungsviertel im Stadtteil Rivat Gan befasst war, gewinnt er 1967 den Wettbewerb für dessen Herzstück, das Parlament. „Der größte Erfolg und die größte Kränkung liegen nah beieinander“, heißt es im Katalog; denn Klarweins Entwurf, der mit seinen rings um das eigentliche Gebäude angeordneten Vierkantpfeilern, wird heftig angefeindet. „Die führenden Architekten Israels und ihre Anhängerschaft der sogenannten Progressiven Architektur haben sich gemeinsam erhoben, um meinen siegreichen Entwurf als unstimmig, klassizistisch und eklektisch zu verleumden“, empört sich Klarwein rückblickend: „Gewiss, er erinnert an Athen, die Wiege der Demokratie. Aber daran ist nichts eklektisch – es ist zeitlos.“ Tatsächlich wird sein Entwurf erheblich verändert, verwässert, im Inneren Klarweins Intentionen zuwider ausgestaltet. Die Pfeiler verschwinden, und nach außen zeigt sich das Gebäude verschlossen, alles andere als ein Haus des Volkes. 1966 wird die Knesset eingeweiht. Klarwein ist berühmt – und zugleich verkannt. Er flüchtet regelrecht, geht zeitweise zu seinem Sohn aus erster Ehe nach Mallorca. Er hat viel in Israel gebaut: Bürogebäude, Privathäuser mit liegenden Fenstern und Balkonen, wie sie dem heißen Klima gemäß waren, bedeutende Grabmäler – darunter das von Theodor Herzl –, in Tel Aviv den Bahnhof, in Jerusalem den Busbahnhof. Aber es gibt keinen wiedererkennbaren Stil, und so vieles wurde überbaut oder ganz beseitigt. Mit den Bauten der „Weißen Stadt“ Tel Aviv hatte er bis auf einige unausgeführte Entwürfe nichts zu tun. Aus heutiger Sicht wenig geglückt erscheint die Aufstockung der Villa von Salman Schocken in Jerusalem im Jahr 1957 zur Nutzung als Musikakademie. Die betonte Horizontalität des Entwurfs von Erich Mendelsohn ging durch das aufgesetzte dritte Geschoss verloren. Ob es eine Zusammenarbeit gab, etwa mit Oskar Kaufmann, dem gleichfalls aus Berlin entkommenen Architekten des ab 1934 errichteten Habimah-Theaters, zu dem sich in Klarweins Nachlass zahlreiche Modellfotos finden, muss noch untersucht werden. Auch mit dem gebürtigen Frankfurter Richard Kauffmann, dem Architekten der Residenz des Ministerpräsidenten, aber auch des Kraftwerks im Norden von Tel Aviv, arbeitet er bei Planungen der Hebräischen Universität auf dem Mount Scopus zusammen.
Ossip Klarwein, der 1970 starb, ist aus der Architekturgeschichte entschwunden. Der Nachlass ist verstreut, ein Gutteil liegt in den Central Zionist Archives in Jerusalem, anderes bei Nachkommen in verschiedenen Ländern. Die Ausstellung und der Katalog samt Werkverzeichnis rekonstruieren ein Lebenswerk, das besonders ist und doch so bezeichnend für das zerrissene 20. Jahrhundert. Die Schau soll später noch an anderen Orten gezeigt werden.







0 Kommentare