Bauwelt

Kapitel 9: Wie hält Minimales zusammen?

Interview mit dem Tragwerksplaner Mutsuro Sasaki

Text: Henrike Rabe, Darryl Jingwen, Tokyo; Sasaki, Mutsuro, Tokyo

Kapitel 9: Wie hält Minimales zusammen?

Interview mit dem Tragwerksplaner Mutsuro Sasaki

Text: Henrike Rabe, Darryl Jingwen, Tokyo; Sasaki, Mutsuro, Tokyo

Herr Sasaki, warum haben Sie sich entschieden, Tragwerksplaner zu werden?
Ich ging noch zur Oberschule, es war während der Tokyoter Olympiade von 1964, als ich mich für Architektur zu interessieren begann. Damalswurde in einem Interview mit Kenzo Tange das Yoyogi National Gymnasium mit seiner großarti­gen Dachkonstruktion vorgestellt. Ich war so begeistert, dass ich mich am Fachbereich für Konstruktion der Universität Nagoya einschrieb.
 
Welche weiteren Gebäude waren wichtig?
Félix Candelas hyperbolisch-parabolische Schalenkonstruktionen wie beispielsweise die Kapelle San Vicente de Paul oder das Bacardi-Abfüllwerk und Eero Saarinens TWA Terminal am Flughafen John F. Kennedy in New York.
 
Wie waren Ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Toyo Ito an der Sendai Mediathek?
Es war eine Woche nach dem Erdbeben von Kobe im Jahr 1995. Ito war ins Ausland gereist, um an einem Projekt zu arbeiten. Da erhieltich von ihm eine Skizze mit der Bemerkung: „Das sind Ihre Hausaufgaben.“ Das Baugelände war riesig, und die Skizze war klein, von Hand gezeichnet, ein Gekritzel mit vielen Linien und Notizen. Beim Blick auf die Skizze war mir aber klar, dass diese winzige Zeichnung viele Ideen und Konzepte enthielt, die für ein Modell der Architektur des 21. Jahrhunderts relevant sind.
 
Wie kamen Sie zu Ihrem Verfahren der Sensi-
tivitätsanalyse?
Als ich 1998 mit Arata Isozaki an der Fertigstellung des Entwurfs für das Große Nationaltheater in Beijing arbeitete, konnte man noch keine Computer einsetzen, um Belastungen undVerformungen frei gekrümmter Oberflächen
zu mes­sen und zu berechnen. Um herauszufinden, wie sich Druck- und Zugspannung an je-
dem Punkt verhielten, war ich im Wesentlichen auf das Trial-and-Error-Verfahren angewiesen, veränderte also die Koordinaten der frei ge-krümm­ten Oberflächen von Punkt zu Punkt ein wenig. Das war sehr zeitaufwendig und nicht sehr systematisch.
Ich wurde diese zeitraubende Methode bald leid und suchte deshalb für den Entwurf nacheinem theoretischeren, auf den Prinzipien kon-struktiver Logik beruhenden Verfahren. Meine Entwicklung war von den einfachen, aber brillanten Experimenten Gaudís inspiriert, der Modelle einfach umgedreht hatte, so dass beispielsweise aus Zug Druck wurde, um heraus-
zufinden, wie sich die ideale Konstruktion entwerfen ließ. Statt Berechnungen anzustellen, um die erstrebte Form zu verwirklichen, drehte er die Richtung des Prozesses um.
Genauso arbeitet auch die Sensitivitätsanalyse: Man geht nicht von der erstrebten Form aus und misst und berechnet dann, um diese zu erhalten, sondern verfährt umgekehrt – die an­gemessene Konstruktion wird gefunden, indem die Form als ein variabler, erst zu entdeckender Parameter angesetzt wird.
 
Erzählen Sie über den Entwurfsprozess für SANAAs Learning Center in Lausanne.
Ausgangspunkt war die einfache Idee, den Fußboden über den Grund zu erhöhen, so dass eine Lücke entsteht und Menschen sich frei darunter bewegen können. Danach musste das Dach entworfen werden, das parallel zum Fußboden verlaufen sollte. Die Form ergab sich so auf ganz natürliche Weise. Anders als das Dach wird derFußboden für diverse Aktivitäten genutzt, also gab es viele zusätzliche statische Überlegun­gen, die zu berücksichtigen waren. So mussten wir zum Beispiel den Neigungswinkel begren­zen. Wenn der zu steil ist, fallen Menschen und Dinge einfach um. Verglichen mit meinen frühe­ren Versuchen mit der Sensitivitätsanalyse wa­ren bei diesem Projekt verbesserte theoretische Analysen erforderlich, die eine große Zahl zusätzlicher Kontrollen berücksichtigen mussten. Im Ergebnis entstand beim Learning Center eine viel sanftere, ruhigere, frei gekrümmte Oberfläche.
 
Wie steht es mit SANAAs 21st Century Museum of Contemporary Art in Kanazawa?
Für mich sind Mies van der Rohe und Gaudí, wenngleich an unterschiedlichen Enden des Spektrums, die allgegenwärtigen „Ahnen“ und ständigen Bezugspunkte. Bei jedem Projekt frage ich mich, ob es mehr in Richtung Gaudí oder Mies tendieren wird. Sejimas Architektur tendiert zu Mies. Gerade beim 21st Century
Museum verwirklicht sie eine Neuinterpretation seines Erbes. Blickt man auf die letzten Gebäude, dann scheint es, dass gekrümmte Dä-
cher und Geschossplatten verstärkt auftreten und die Konstruktionen noch dünner werden.
 
Wie verläuft Ihre Zusammenarbeit mit SANAA?
Alle legen eine Menge Ideen auf den Tisch, machen Vorschläge.
 
Sie sind von Anfang an beteiligt?
Ja, man lässt die Dinge voneinander abprallen und spielt sie zurück. Deswegen bin ich eigentlich kein wirklicher Tragwerksplaner! (lacht)
 
Fakten
Architekten Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa, SANAA, Tokyo; Toyo Ito, Tokyo
aus Bauwelt 33.2010
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