Bauwelt

Ein Besuch in Drancy

Das Symbolische, das Politische und das Reale

Text: Sowa, Axel, Paris

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Foto: Claude Caroly

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Ein Besuch in Drancy

Das Symbolische, das Politische und das Reale

Text: Sowa, Axel, Paris

Utopien nähren sich von Tagträumen und Wunschbildern. Aus dem unstillbaren Verlangen nach einer besseren Welt werden Erzählungen, Malerei und weit in die Zukunft reichende Pläne. Doch so hoffnungsfroh diese Fiktionen auch sein mögen, sie rühren nicht an jenen unbestimmt bleibenden Ort der Erfüllung und Erlösung.
Utopien lassen sich ebenso wenig abbilden wie ihr Gegenteil, die unsäglichen Orte der Angst, des Schreckens, der Erniedrigung, der Vernichtung. „Pichipoi“ hieß im Konzentrationslager Drancy der Ort, dessen wirklichen Namen keiner kannte. Jener Ort, von dem man nicht viel mehr wusste, als dass von dort niemand zurückkam. Pichipoi bedeutet im Jiddischen so viel wie ein winziges Nest, kaum größer als ein Floh. Erst später stellte sich heraus, dass mit Pichipoi Auschwitz-Birkenau gemeint war.
Die Gemeinde Drancy gehört zum Departement Seine-Saint Denis. Sie liegt auf halben Weg zwischen Paris und dem Flughafen Charles de Gaulle. In ihrem feinmaschiges Straßennetz hat sich eine Myriade von Einfamilienhäusern auf kleinen Parzellen verfangen. An manchen Stellen wird dieses Netz von größeren Gebilden durchbrochen. Das sind die so genannten cités, die Großsiedlungen der öffentlichen Hand. Eine von ihnen hat den Beinamen „la Muette“ – „die Stumme“. Sie ist der Prototyp für die lang anhaltende Produktion der Wohnungsfürsorge in der Île de France. Nähert man sich der Cité de la Muette von Norden, so fällt die strenge Fassadengliederung auf. Balkongitter, Treppenhäuser, Fensterprofile wiederholen sich im gleichbleibenden Rhythmus. Die Details sind so einfach wie die Elemente, die von ihnen zusammengehalten werden.
An dem Freitagmorgen unseres Besuchs in Drancy ist es still in der Cité de la Muette. Ältere Menschen kommen vom Einkauf, jüngere Sitzen auf den Bänken der Grünanlage im Zentrum des U-fömigen Baus, der von August 1941 bis Juli 1944 als Konzentrationslager diente. Autos parken vor den schier endlosen Wandelgängen, die den weiten Hof dreiseitig einrahmen. Während der Westflügel der Anlage Spuren von Sanierungsmaßnahmen zeigt, erkennt man im Osten noch die Fensterprofile aus einer längst vergangenen Zeit ohne PVC. Die Cité ist nach Süden, zur Esplanade Charles de Gaulle hin offen. Dort steht seit 1976 ein Denkmal von Shlomo Selinger auf einem konischen Sockel aus Wackersteinen. Im Jahr 1988 kam ein Güterwaggon der französischen Bahn SNCF hinzu. Beide Objekte erinnern an den Abtransport von 67.693 Männern, Frauen und Kindern aus der Cité de la Muette. Im Gras vor dem Waggon hat der Französische Staat 1993 eine Gedenktafel aufstellen lassen. Darauf steht: „Die Französische Republik ehrt die Opfer rassistischer und antisemitischer Verbrechen und solcher gegen die Menschlichkeit, welche unter der nicht vom Volk anerkannten Macht, der sogenannten ‚Regierung des Französischen Staates’ zwischen 1940 und 1944 begangen wurden. Lasst uns das nie vergessen!“ Die Formulierung wirkt gewunden. Ihre Sprachregelung entspricht der Überzeugung, dass der französische Staat der Nachkriegszeit keine Verantwortung für die unter der Vichy-Regierung verübten Verbrechen übernehmen kann. Diese Überzeugung teilte auch François Mitterrand. Und sie ist heute noch weit verbreitet. Sie gründet sich in der Haltung De Gaulles, dessen Erlass aus dem Jahr der Befreiung alle unter Vichy begangenen Verbrechen für null und nichtig erklärt hatte. So wurde auch René Bousquet, Generalsekretär der französischen Polizei unter Vichy und Organisator der Razzia, die mit der Internierung der Pariser Juden im Wintervelodrom endete, 1949 vom Obersten Gericht freigesprochen. Inzwischen hat sich der Tonfall gewandelt. Am 16. Juli 1995, dem 53. Jahrestag der besagten Razzia, hatte Jacques Chirac als erster Präsident des Nachkriegszeit gesagt: „Ja, der kriminelle Wahnsinn der Besatzer wurde, wie jeder weiß, von den Franzosen und vom französischen Staat unterstützt. Frankreich, das Land der Aufklärung und der Menschenrechte, das Land der Gastfreundschaft und der Zuflucht, hat in jenen Tagen nicht wieder gutzumachendes Unrecht begangen.“ Damit war das Eis gebrochen. Weitere Eingeständnisse einer spezifisch französischen Verantwortung unter deutscher Besatzung folgten. Erstmals wurde im April 1998 mit Maurice Papon ein hoher französischer Beamter für die von seinem Amt aus organisierte Beihilfe zur Deportation von Bürgern jüdischer Abstammung haftbar gemacht und verurteilt.
Nach einem ersten Rundgang auf der Esplanade Charles de Gaulle sehen wir das Hinweisschild des „Conservatoire Historique du Camp de Drancy“. Auf dem Weg dorthin begegnet uns ein Herr mittleren Alters, der, nachdem er die Fotokamera meines Begleiters erblickt, wütend auf ihn zugeht, um ihm unter Androhung von Hieben klarzumachen, dass er keine Fotos wünsche, dass die Geschichte vorbei sei, dass er nun hier wohne und mit Juden und Deutschen nichts zu tun habe. Das alles geschieht, während der Leiter des kleinen Museums uns die Tür öffnet. Der erregte Herr tritt nun auf die Türe ein, und zu dritt haben wir einige Mühe, ihn zur Raison zu bringen. Der Leiter der Einrichtung hört sich die Vorwürfe gefasst an. Schließlich beruhigt sich der Mann und verschwindet. Perplex ob der Vehemenz der Übergriffe, fragen wir Alain Kremenetzky nach seinem Alltag, nach den Arbeitbedingungen im heutigen Umfeld der Cité. Er beteuert, dass er hier nur einer der Mieter der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft sei. Sein Verein, untergebracht in einem bescheidenen Ladenlokal im Erdgeschoss des Ostflügels, kümmere sich seit 1989 um die Weitergabe des lokalen Erbes. Weder vom Staat noch von der Stadt sei dabei viel Hilfe zu erwarten. Von den Anwohnern werde die Arbeit eher als störend wahrgenommen. In einem Milieu, in dem der Antisemitismus immer noch präsent ist, hat sich der Verein folgendes vorgenommen: Er möchte die Erinnerung wachhalten an das, was dort passiert ist; er möchte das Gedenken an die Männer, Frauen und Kinder wahren, die von Drancy aus nach Auschwitz verschleppt wurden; er will einen Beitrag zur Reflexion über die Shoah leisten und jüngere Generationen mit den Fakten der Deportation und Vernichtung der europäischen Juden vertraut machen. Bislang konnte der Leiter der Institution jährlich etwa 5000 Schüler durch die Ausstellung führen. Ein wichtiger Bestandteil der Besuche seien die Zeugenberichte von Überlebenden, doch immer weniger von ihnen können von ihrer Geschichte erzählen. Mit dem Verschwinden der letzten Zeugen hängt die Arbeit ganz von der Aussagekraft und Präsenz der Bilder, Aufzeichnungen, Objekte ab. Die jüngeren Schülergruppen, zu einem erheblichen Teil Kinder von Einwanderern aus Nord- und Zentralafrika, seien, so der Leiter des Conservatoires, immer weniger empfänglich für die schwierige Geschichte von Vichy. Aufgrund ihrer Erziehung, ihrer Emigrationserfahrung in anderen Cités der Pariser Banlieue und aufgrund eines immer unglaubwürdiger werdenden Integrations- und Aufstiegsversprechens entsteht eine kaum zu überbrückende Distanz zur lokalen Geschichte. Die Schülerbesuche münden oft in vehemente Auseinandersetzungen über die Tagespolitik und vor allem über Israels Haltung im Nahostkonflikt.
Erst 1949 als die Cité de la Muette bereits dreizehn Jahre lang stand und erst Kaserne und dann Konzentrationslager war, zogen zum ersten Mal Mieter ein. Heute, im siebzigsten Jahr ihres Bestehens, bietet die Cité von Drancy die niedrigsten Mietpreise im Pariser Norden, und kaum einer der Bewohner hat sich hier wegen der schönen Aussicht niedergelassen. Die meisten wohnen hier, weil es für sie keine andere Lösung gibt.

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