Bauwelt

Wohnen im Versuchsobjekt

Das einstige Oberstufenzentrum Wedding, 1974–76 von Pysall Jensen Stahrenberg erbaut, könnte bald für Wohnen, Soziales und Kultur genutzt werden – wenn der Berliner Senat nicht auch dieses Modellprojekt verhindert

Text: Kleilein, Doris, Berlin

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    Vier Jahre Leerstand im ehemaligen OSZ Wedding. 300.000 Euro Unterhalt kostet das den Bezirk pro Jahr.
    Foto: Doris Kleilein

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    Vier Jahre Leerstand im ehemaligen OSZ Wedding. 300.000 Euro Unterhalt kostet das den Bezirk pro Jahr.

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    Der Plan von 1974 zeigt das EG mit der Schulstraße.

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Wohnen im Versuchsobjekt

Das einstige Oberstufenzentrum Wedding, 1974–76 von Pysall Jensen Stahrenberg erbaut, könnte bald für Wohnen, Soziales und Kultur genutzt werden – wenn der Berliner Senat nicht auch dieses Modellprojekt verhindert

Text: Kleilein, Doris, Berlin

Die Schule als ein demokratischer Ort, an dem auch Arbeiterkinder und die Nachbarschaft Zugang zu Bildung haben - das ehemalige „OSZ Wedding“ steht paradigmatisch für die reformpädagogischen Ziele der sechziger und siebziger Jahre. Pysall Jensen Stahrenberg, die 1971 den Wettbewerb gewonnen hatten, übersetzen das offene Konzept in eine dreigeschossige Anlage mit flexiblen Räumen und sehr großzügigen Gemeinschaftsflächen (Heft 35.1978). An der Schulstraße, die das Gebäude im Erdgeschoss durchzieht, lagern sich öffentlich nutzbare Einrichtungen an: Stadtteilbibliothek, Aula, Volkshochschule, Turnhalle. Der strukturalistische, modular aufgebaute Stahlskelettbau ist unverkennbar ein Kind seiner Zeit: die abgerundeten Fassadenpanele in Orange, die Rohre und Rahmen in Grün, die freistehenden Treppenhäuser, die geriffelten Betonwände, das Holzpflaster; ein nicht von allen geliebter, aber doch beredter Zeuge der Schularchitektur der siebziger Jahre. Es ist das erste Oberstufenzentrum Berlins, und es ist eines der letzten, das noch steht; die anderen wurden wegen Asbestverseuchung abgerissen. 2011 ist auch an der Swinemünder Straße der letzte Nutzer, das Diesterweg-Gymnasium, ausgezogen (vorwiegend wegen Schülermangels und hoher Unterhaltskosten), danach schloss die Bibliothek, seit Ende 2014 steht auch die Turnhalle leer – und mit dem Schulkomplex ein 18.200 Quadratmeter großes, nur locker bebautes Gelände in Innenstadtlage: im Osten der Mauerpark, im Süden die Bernauer Straße. Dass dieses Areal noch nicht von privaten Investoren entdeckt wurde, könnte man als eine späte Konsequenz der Kahlschlagsanierung in Berlin (West) bezeichnen: Ab 1961 wurden im „Brunnenviertel“, das dreiseitig von der Berliner Mauer umschlossen war, von knapp 15.000 Altbauwohnungen 9000 beseitigt und das Gebiet durch spätmodernen Wohnungsbau und den Umbau der Swinemünder Straße zur Fußgängerzone in eine vorstädtische Siedlung verwandelt. Für die Gentrifizierung, wie sie in den angrenzenden Vierteln nach 1989 stattfand, war dieser Bestand bislang nicht attraktiv genug. Kulturelle und soziale Einrichtungen fehlen bis heute.

Bezirk gegen Senat

Private Investoren hätten den orangefarbenen Fun Palace wahrscheinlich längst zerlegt. Doch auch die Senatsverwaltung, politisch wegen der steigenden Mieten stark unter Druck, will die Altlast lieber loswerden, um auf dem Areal möglichst viele Wohnungen zu bauen. Ein Entwurf der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Degewo liegt dazu längst auf dem Tisch. Der Bezirk Mitte, dem das Gelände gehört, steht allerdings hinter einem ganz anderen Vorhaben: „ps wedding“, einer Initiative der Berliner Architekten Oliver Clemens, Sabine Horlitz und Bernhard Hummel, die nicht nur die Architektursprache zu schätzen wissen, sondern auch inhaltlich an die ebenfalls aus den siebziger Jahren stammende Idee eines „soziokulturellen Zentrums“ anknüpfen. Seit 2012 haben sie die Gremien des Bezirks und letztendlich auch den Konkurrenten Degewo in Kleinarbeit von ihrem Projekt überzeugt: Die Schule soll erhalten werden, lediglich ein Teilabbruch der riesigen Aula und eine Entkernung sind geplant, um geringere Gebäudetiefen zu erreichen. Um das Mutterschiff herum gruppieren sich Neubau-ten mit Mietwohnungen und ein Kindergarten, Platz dafür ist reichlich vorhanden. Die Schule selbst bleibt das Herzstück des Experiments: Das Erdgeschoss soll wieder öffentlich genutzt, die Bibliothek zurückgeholt und um Bildungsangebote erweitert werden. Freie Träger und Theatergruppen haben bereits Interesse angemeldet. In die beiden Obergeschosse mit den Klassenräumen könnten zukünftig Wohnungsmieter einziehen – dies wird mit Sicherheit die größte Herausforderung. Die nur sechs Zentimeter dicken Sandwichelemente der Fassade dürften wohl nur mit massiver Innendämmung auf den Stand der EnEV 2014 gebracht werden können. Aber es wäre wirklich zu schön, wenn das System der verschiebbaren Innenwände, das seinerzeit gefordert war, nun endlich zu Ehren käme. Teuer sei es gewesen, erinnert sich der heute 85-jährige Architekt Hans-Joachim Pysall, und nach zwei Jahren hätten die Lehrer es aufgegeben, die Wände verschieben zu wollen. Dabei wurde in der Planungszeit ein enormer Aufwand betrieben, um die Rettungswege im „Versuchsobjekt“ feuersicher zu machen: Da der Grundriss frei gestaltbar bleiben sollte, entschied man sich für eine Sprinkleranlage. Dieser Umstand hat das Gebäude bislang wohl auch vor dem Abriss bewahrt: Obwohl das Killerargument Asbetverseuchung von den Abrissbefürwortern immer wieder angeführt wird, sind die tragenden Stahlbauteile eben nicht mit Asbest gespritzt. Das Material wurde allerdings in der Heizzentrale verbaut und muss entsorgt werden – doch diese Kosten fallen beim Abriss ebenso an wie bei der Sanierung. 1100 Euro pro Quadratmeter Nutzfläche veranschlagt ps wedding für die Wohnungen im 1. und 2. OG, 900 Euro pro Quadratmeter für den Umbau des Erdgeschosses.

Das Syndikatsmodell für normale Mieter öffnen

Es bleibt abzuwarten, wie die Architekten das Schulgebäude energetisch auf den heutigen Stand bringen werden. Für die Berliner Stadtentwicklung ist das Projekt auf mehreren Ebenen brisant. Zum einen wirft es erneut die Frage nach dem Umgang mit öffentlichen Liegenschaften auf, zum anderen zeigt es, wie wichtig es ist, dass die städtischen Wohnungsbaugesellschaften sich alternativen Konzepten öffnen und mit den für Berlin typischen Stadtentwicklungs-NGOs zusammenarbeiten. Die Stadt braucht mehr als nur Wohnungen. Darüber hinaus will ps wedding im Brunnenviertel eine gemeinnützige Rechtsform etablieren, die bislang vor allem bei der Umwandlung besetzter Häusern erfolgreich eingesetzt wurde: das Syndikatsmodell, bei dem die Mieter eine GmbH gründen, die das Haus kauft und „vom Markt nimmt“, um Mietsteigerungen zu verhindern. „Wir wollen das Modell aus der linken Ecke holen“, so Sabine Horlitz. 350 günstige Mietwohnungen unterschiedlicher Größe, von 34 bis 120 Quadratmetern, könnten so auf dem Gelände entstehen. Der Senat, der seit einem Jahr die Wohnungsbauentwürfe des „Urban Living“-Verfahrens (Heft 11.2014) in der Schublade hält und derzeit seine Liegenschaften neu clustert, wäre gut beraten, ein lokal verankertes Modellprojekt wie dieses zu unterstützen.

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Bilder ps wedding

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