Bauwelt

Atlantikwall – 45°26’1.11” N; 1°9’13.66” W

Text: Braatz, Wolfgang, Berlin

Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Heiko Schiller

  • Social Media Items Social Media Items

Heiko Schiller


Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Heiko Schiller

  • Social Media Items Social Media Items

Heiko Schiller


Atlantikwall – 45°26’1.11” N; 1°9’13.66” W

Text: Braatz, Wolfgang, Berlin

2o. April 1945: Zur effektvollen Heimkehr des Generals Charles de Gaulle gehört die späte Einnahme der Doppelfestung an der Mündung der Gironde. Heute besetzen Badegäste die langsam versinkenden Reste.
Man schaut auf diese Bilder und versucht, auch andere Fund-Stücke – die Chinesische Mauer, den Limes? – an den Tücken der Gegenwart vorbei aus dem Kopf zu kramen. Wie entstehen Städte: Man baut einen Wall, um die Schafe vor den Wölfen zu schützen. Dann kommen die Ratten. Wirbeltiere sind so, Stadtluft macht frei. Nur Menschen‚ etwas träge, denken über Finten nach: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

Hinter den Mauern lag das Ziel. Bücher und Musenspiele markieren die vielfältigen, von Scharmützeln und Schlachten unterbrochenen Feldzüge zum Eigentum anderer Leute, um sie davor zu bewahren, im Luxus unterzugehen. Das Alte Testament stiftet etwas Ordnung beim Verteilen der Beute (4. Mose 31). Heraklit erklärt den Krieg zum Vater aller Dinge. Aus Knüppeln werden Schwerter, aus Steinen Pfeile, Wappen­röcke ersetzen das Feldgeschrei, Feuerwaffen schaffen Spielraum, Kanonaden und Füsiladen. Künstler, die zur Vermehrung ihrer Existenzbeweise jedes vermeidbare Problem zu ei­-
ner Bauaufgabe befördern, leisten Widerstand: Kriegsbaukunst. Ihnen gelingt es, die natürliche Beschaffenheit eines Ortes so zu verwandeln, dass einem Feind, auch auf dem Umweg über das Meer, keine Möglichkeit gegeben wird, ihn in Besitz zu nehmen – bis die männlich trotzige Kampfart („mal lag er oben, mal lag ich unten...“) durch List und Verrat ersetzt werden kann, bis eine Lücke im Plan oder neues Kampfgerät gefunden wird.

Zeit vergeht. Zur Rezeption der Antike gehört, dass Ästheten sich belohnen. Hierzulande lässt Albrecht Dürers Zusammensetzen zeitgemäßer Pläne, sein „Unterricht von der Befestigung der Städte, Schlösser und Burgen“, an die Idealstadt denken. Folgt der Blick einer Geschossbahn, so trifft er auf reine Formen, auf geometrische Grundfiguren der Architektur. Praktiker preisen 150 Jahre später ein anderes Talent, den Kritiker des Merkantilismus, Erfinder des Ricochetschusses, den berühmtesten aller Kriegsbaumeister: Sébastien le Pêtre de Vauban. Architekturschüler kennen seinen Namen. Unlängst hatten sie noch Jahreszahlen im Lernprogramm: 1618–1648, 1675, 1683, 1756–1763, 1789, 1813, 1870/1871, 1914–1918, 1939–1945 und von Friedrich Schiller gehört: „Der Krieg ernährt den Krieg.“

Man kann das anders sehen. Heldentaten finden keinen dauerhaften Maßstab. Den altbekannten Streichen mit einem hölzernen Pferd oder auf einer Kanonenkugel folgen Militär­humoresken. Und dann zeigt Norman Mailer, wie erfahrene „Kriegsteilnehmer“ letztlich vor einem Hornissenschwarm kapitulieren.
Einige Zeitgenossen erinnern sich so: Der in den Jahren 1939–1945 größte Feldherr aller Zeiten hatte das alte chinesische, später von Mao Tse-tung wiederbelebte Strategem „Im Osten lärmen, im Westen angreifen“ übersehen und sich so den Feind seines Feindes zum Feind gemacht. Im Außenministerium wurde eine Akte „Zweite Front“ angelegt, neue Befehlswege (wer sagt wem, was, wann, wie, wo geschehen soll) wurden erkundet und umkämpft, und die Westflanke der „Festung Europa“ vom Eismeer bis zur Biscaya zum uneinnehmbaren „Atlantikwall“ erklärt. Trotz der optimistischen Feststellung „Vor der Küste liegt das Meer“ donnerte nach einem Einsatz der Propagandakompanien in allen Ohren eine Ode an den Beton. Eine mit dem Bau von Autobahnen und der Anlage des Westwalls vertraute Organisation fand große Aufgaben: die Verbunkerung von Marinestützpunkten und die Befestigung einer 6000 km langen Küstenlinie, eine neue Architectura Mi­litaris.

Es gab Probleme. Überlegungen zum Empfang des Gegners – vor oder an der Küste – verzögerten die Planung. Schließlich wurde sie von der „Feindlage“ bestimmt. Die war, wie auch die Wetterlage, schwer zu erkunden. Die seit Alexanders Zeiten herbeigeträumten „geflügelten Soldaten“ hatten den Luftraum abgegeben, der Gegner hatte die Front ins Riesenhafte vergrößert. Zudem sorgten Täuschungsmanöver, eine Verleitung zu unbedachten Taten, für Irritationen: Atrappenbau und Scheinangriffe wechselten sich ab. Nur echte Rückwärtsbewegungen waren verboten.

Material und Arbeitskräfte wurden mit Hilfe der Strichlisten-Logistik bewegt. Neben örtlichen Baufirmen ließ die Organisation auch Kriegsgefangene und Strafhäftlinge als Frontarbeiter zu. Auch „Mischlinge“ wurden gebraucht: „Bei Bewährung und Verheiratung entsprechend den Rassegesetzen haben sie die Möglichkeit, ihr Blut in späteren Generationen wieder als entjudet der deutschen Volksgemeinschaft zuzuführen.“

Die opfervollen Wege zwischen Wunsch und Wille, verbaler Fortifikation und dem Ausbau „kampfkräftiger Küstenbeobachtung“ wurden vergessen, der „Stählerne Reif“, die Kette von Unterschlüpfen mit Strauchwerksbekleidung, Stützpunkt-Gruppen und festen Verteidigungsbereichen wurde durchbrochen. Vor und hinter den neuen Fronten erklang zuweilen als Pausenzeichen die gleiche Melodie: „... mit dir, Lili Marleen.“ Warum auch nicht, wir dienen doch alle nur einer Industrie.

Nicht nur an Badeorten gibt es noch einige Spuren. Besondere Einsichten sind nicht bekannt.  

0 Kommentare


loading
x
loading

9.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.