Bauwelt

Utopie auf der Streuobstwiese


Vierzig Jahre Arbeit am Atriumhaus: Inspiriert vom Zusammenleben in afrikanischen Dörfern, entwickelte der österreichische Archi­tekt Fritz Matzinger 1973 in Linz den Prototyp für ein gemeinschaftliches Bauen und Wohnen


Text: Seiß, Reinhard, Wien


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    Das Luftbild zeigt die Organisation der Häuser um einen gemeinsamen Innenraum und ihre Verbindung durch das Schwimmbad Wohnungsgrundrisse
    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Das Luftbild zeigt die Organisation der Häuser um einen gemeinsamen Innenraum und ihre Verbindung durch das Schwimmbad Wohnungsgrundrisse

    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Die erste Wohnanlage war noch aus Raummodulen erstellt. Oben links die Anzeige, mit der der Architekt nach Mitstreitern suchte
    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Die erste Wohnanlage war noch aus Raummodulen erstellt. Oben links die Anzeige, mit der der Architekt nach Mitstreitern suchte

    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Das Schwimmbad hat sich in vierzig Jahren Zusammenlebens als zwangloser Treffpunkt bewährt
    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Das Schwimmbad hat sich in vierzig Jahren Zusammenlebens als zwangloser Treffpunkt bewährt

    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Die runde „Kaminecke“ im Atrium lädt die Bewohner zum Austausch ein, die Austritte in den Obergeschossen betonen das Bühnenhafte des Raums
    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Die runde „Kaminecke“ im Atrium lädt die Bewohner zum Austausch ein, die Austritte in den Obergeschossen betonen das Bühnenhafte des Raums

    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Die Dörfer in Kamerun und der Elfenbeinküste sind eine räumlich widergespiegelte Organisation des Zusammenlebens
    Foto: Archiv Fritz Matzinger

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    Die Dörfer in Kamerun und der Elfenbeinküste sind eine räumlich widergespiegelte Organisation des Zusammenlebens

    Foto: Archiv Fritz Matzinger

„Wir wohnen von Anfang an hier“, betont Fritz Matzinger am Beginn einer kurzen Führung durch seine dreigeschossige Wohnung. Sie ist Teil der ersten seiner mittlerweile 21 Siedlungen, wenige Kilometer außerhalb der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz. „Es war mir wichtig, als Architekt das, was ich baue, auch selbst zu nutzen, um zu erfahren, was ich künftig korrigieren sollte.“ Viel Änderungsbedarf dürfte sich nicht ergeben haben. Denn auch wenn Matzinger bautechnisch bald andere Lösungen fand als bei seinem Prototyp, blieb sein inhaltliches Konzept des nachbarschaftlichen Wohnens bis heute unverändert. „Im Erdgeschoss sind Küche und Essplatz – und da, wo jetzt das Wohnzimmer ist, war ursprünglich mein Bauleitungsbüro. Das war die erste Raumzelle, die auf der Baustelle gestanden ist. Heute, da die Kinder längst ausgezogen sind, nutzen wir den Platz für Erinnerungsstücke von unseren Reisen nach Afrika.“
Die Wohnung der Matzingers zeigt den Aufbau aus 3 mal 5,5 Meter großen, vorgefertigten Raummodulen aus Leichtbeton, die auf einer Seite komplett offen blieben. Dort setzte der Architekt ganz im Stil der frühen 70er Jahre – als jedes Material und jedes Design recht und billig waren, so sie nur möglichst neuartig und ungewöhnlich wirkten – ein zweischaliges Kunststoffglas mit einer nach außen gewölbten Lichtkuppel in der Mitte ein. Dieses Element ist das einzige aus jener Zeit, das aus den meisten der 16 Wohnungen verschwunden ist: Heute finden sich, auch thermisch-energetischen Überlegungen geschuldet, mehrheitlich herkömmliche Fenster aus Isolierglas eingebaut. Alle anderen Details, von den Türgriffen bis zu den Oberlichten, sind indes fast überall erhalten.
Über eine vorgefertigte Wendeltreppe gelangt man in den ersten Stock mit den Kinderzimmern, die jetzt gelegentlich Matzingers Enkel nutzen, sowie dem futuristisch anmutenden Badezimmer, das erstaunlicherweise keinerlei Patina angesetzt hat. „Das Bad besteht zu hundert Prozent aus Acryl und ist ebenfalls vorfabriziert“, erklärt der Architekt. „Boden, Wände und Decke, Waschbecken und Dusche sind alle aus einem Guss und fix und fertig aus einer Fabrik in Italien auf die Baustelle gekommen. Wir mussten nur noch Strom sowie die Zu- und Abflüsse anschließen.“ Im zweiten Stock befindet sich das Schlafzimmer, dem – wie auch den Erdgeschossräumen – eine großzügige Terrasse vorgelagert ist.
„Das Haus ist noch ein Ausfluss meiner frühen Überlegungen in Richtung schnelles und kostengünstiges Bauen“, erzählt Fritz Matzinger. „Zu Beginn meiner Tätigkeit Ende der sechziger Jahre lag es im Trend, zu überlegen, wie man Wohnungen in großer Zahl effizient erzeugen kann. Und auch ich war von den Möglichkeiten serieller Vorfabrikation begeistert“, bekennt der Architekt, welcher heute als ein Pionier der Baugruppenbewegung gilt. „Meine Vorstellung damals war, dass es einen Katalog mit Typen gibt, aus denen man wählen kann, die werden dann bestellt, produziert, nebeneinandergestellt oder übereinandergestapelt, und man kann einziehen.“ Der junge Planer hatte bereits ein Konzept für standardisierte Wohnungen aus Gasbetonschalen entwickelt, das sogar patentiert wurde, und eine tschechoslowakische Firma gefunden, um sie herzustellen.

Reise mit Folgen

Doch dann zeigte ihm eine Reise nach Westafrika im Jahr 1973, worauf es beim Wohnen wirklich ankommt: „Ich habe in den Dörfern in Kamerun und der Elfenbeinküste eine Gesellschaft und eine Wohnform kennengelernt, in der es keine Kindergärten gibt und keine Seniorenheime, keine Schlüsselkinder, die den ganzen Tag allein sind, oder alte Menschen, die vereinsamen.“ Der hiesige Wohnbau dagegen separiere die Menschen und stelle bloß eine Befriedigung physischer Bedürfnisse dar, so Matzinger – „ein paar Wände, ein Dach über dem Kopf und fertig. Aber das kann es nicht sein.“
So hatte er noch in Afrika die Idee, diese Eindrücke in ein Wohnprojekt umzusetzen. In seinem Büro in Linz entstand dann innerhalb eines Monats ein Plan für ein Modell, das der Architekt und seine Frau zusammen mit anderen Familien realisieren wollten – als gemeinschaftliche Alternative zum Nebeneinander-her-Wohnen, ob im Wohnblock, ob im Einfamilienhaus. Fritz Matzinger schaltete eine kleine Zeitungsannonce, auf die sich unverhoffte 150 Interessenten meldeten. Mit 15 von ihnen startete er nach Kauf eines Grundstücks im Mai 1975 die Bauarbeiten, wobei ihm sein Know-how zu fertigteilbasierten Konstruktionen zugute kam: noch im Dezember desselben Jahres konnte die Anlage bezogen werden.
Die Typologie der zweiteiligen Siedlung war hierzulande eine gänzlich neue: Je acht zwei- bis dreigeschossige Wohneinheiten umschließen einen rund 200 Quadratmeter großen, quadra­tischen Hof, oder wie der Architekt es nennt, ein Atrium, das bei Schlechtwetter durch ein Glasdach geschützt und im Winter durch eine Fußbodenheizung temperiert wird. Verbunden sind beide Hofhäuser durch ein Schwimmbad samt Sauna, das ebenfalls sommers wie winters genutzt werden kann und laut Matzinger als ein Kristallisationspunkt des Gemeinschaftslebens fungiert. Eingebettet ist die Anlage in einen großen Grünraum, in dem jeder Wohnung ein kleiner Privatbereich zugedacht ist, der aber ohne Abzäunung in den gemeinschaftlichen Garten übergeht. Den wichtigsten Freiraum bilden allerdings die zwei Innenhöfe: Sie dienen den Bewohnern als Treffpunkt, Spielraum, Sporthalle, Festplatz und Veranstaltungsort, ja, als eine Art Wohnzimmer und Wintergarten der Hausgemeinschaft – im wahrsten Sinn des Wortes.

Atrien mit Eigenleben

Tatsächlich stehen eine Couch und einige Korbsessel, aber auch Spielsachen und Blumentöpfe in den beiden Atrien, die vom Architekten sogar mit je einem Grillplatz ausgestattet worden sind. Wohnzimmerkästen und Bücherregale tragen das Privatleben in den halböffentlichen Raum – wo sich eine zusammengeklappte Tischtennisplatte ebenso findet wie ein Klavier, auf dem auch schon öffentliche Konzerte stattfanden. In jenem Hof, dessen knallige Blau- und Orangetöne verraten, in welchem Jahrzehnt er gestaltet wurde, ragen aus den Obergeschossen kleine Balkone in den gemeinschaftlichen Freiraum. Im anderen, fast zur Gänze von Pflanzen überwucherten Hof, läuft ein Laubengang auf der oberen Ebene als zusätzliche Erschließung rings herum. „Jedes Atrium hat sein Eigenleben“, erläutert Fritz Matzinger. „Über die Jahre hinweg war einmal hier und einmal dort mehr los. Das hängt immer auch davon ab, wo gerade mehr Kinder wohnen. Aber da wir ja beide Höfe verwenden, können wir uns aussuchen, ob wir eher unsere Ruhe oder mehr Lebendigkeit wünschen.“
Dass die Atrien so vielfältig wie intensiv genutzt werden, liegt für Matzinger daran, dass sie den Zugangsbereich zu den einzelnen Wohneinheiten bilden. Wann immer die Bewohner ihre eigenen vier Wände verlassen oder betreten, gehen sie über den Hof. So begegnet man sich automatisch, ein kurzes Gespräch drängt sich geradezu auf – und gemeinsame Aktivitäten oder auch gegenseitige Nachbarschaftshilfe ergeben sich wie von selbst. „Wenn ich daran denke, was in den Atrien schon alles gemacht worden ist“, erinnert sich Fritz Matzinger, „von unseren Faschings- und Geburtstagsparties über Tanzkurse bis hin zu einem Schachturnier.“ Er selbst macht zusammen mit anderen Bewohnern seit 40 Jahren einmal wöchentlich Gymnastik im Atrium. Dabei herrscht bei allem und jedem Freiwilligkeit. „Es gibt keinen sozialen Druck, füreinander da zu sein oder auch nur miteinander zu reden“, versichert der Architekt, „doch besteht im Atriumhaus so gut wie immer die Möglichkeit dazu.“
Längst verschwunden ist die Skepsis der Nachbarn, die ursprünglich mehr als befremdet waren von Matzingers avantgardistischem Bau auf einer Obstwiese neben zwei Bauernhäusern: keine Satteldächer, keine Gartenzäune, keine soziale Kontrolle der Neuankömmlinge. Die zwei- und dreigeschossigen Wohnwürfel mit ihren Flachdächern und den bunt umrahmten, bullaugenartigen Fenstern wirkten zunächst ebenso exotisch wie das scheinbar kommunenartige Zusammenleben von 16 Familien. Als die Baugruppe ihre Nachbarn aber zu Festen und Veranstaltungen in die Atrien lud, wichen die Vorurteile. Heute sind die Anrainer stolz darauf, wenn gelegentlich Fremde nach dem architektonisch bedeutsamen Bau fragen. Wobei die Vorbildwirkung der beiden Atriumhäuser vor Ort bislang ausgeblieben ist: Rings herum entstanden seither Dutzende freistehender Einfamilienhäuser, denen Fritz Matzinger sein Wohnmodell als bessere Alternative entgegenstellen wollte. Doch ist der heute 75-jährige ohnehin noch lange nicht am Ende seiner Mission angekommen.



Fakten
Architekten Fritz Matzinger
Adresse Wöberweg 6, 4060 Leonding, Österreich


aus Bauwelt 27.2016
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