Bauwelt

Surrealistisches Refugium


Besuch im Museo Casa Mollino


Text: Kasiske, Michael, Berlin


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    Foto: Adam Bartos

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Unwillkürlich kommt einem in der Casa Mollino Luchino Viscontis Film „Gruppo di famiglia in un interno“ von 1974 in den Sinn. Der Regisseur bezieht sich darin auf das Genre informeller Porträts von Gruppen in ihrer privaten Umgebung. Bis auf eine Szene spielt der Film innerhalb einer einzigen Wohnung.
Ähnlich introspektiv ist das surrealistische Domizil, das sich der italienische Architekt und Designer Carlo Mollino (1905–1973) Ende der 60er Jahre in Turin schuf und das heute als Museo Casa Mollino zu besichtigen ist. Die Wohnung nimmt das erste Ober­geschoss eines Hauses aus dem 18. Jahrhundert ein, das den Kopf einer Häuserzeile zwischen der Via Napione und dem Fluss Po bildet. Sofort beim Eintritt vom kargen Treppenhaus in die Diele beginnt die Irri­tation durch das Interieur: eine mitten im Spiegel angebrachte verzierte Konsole, braune Eisenamphoren mit weißen Porzellankrägen auf blauweißen Ke­ra­mikfliesen, dahinter schwere rote Samtvorhänge und eine in Schienen gelagerte japanische Wand.
Wird die Wand zur Seite geschoben, gelangt man in das Empfangszimmer, an das sich weitere Wohnräume anschließen, ebenfalls mit üppigen Vorhängen und Wandbekleidungen ausgestattet. Im Esszimmer gruppieren sich Eero Saarinens Tulpenstühle aus Kunststoff um einen auf Marmorsäulen gelagerten Tisch. Im Wohnraum fühlt man sich beim Anblick des in eine (inzwischen blinde) Spiegelwand eingelassenen Kamins an Le Corbusiers Dachgarten für das Apartment von Charles de Beistegui erinnert; inmitten strahlend weißer Brüstungswände war dort eine Kamingewand im Stil der Zeit Ludwigs XV. platziert.
Der von Hause aus finanziell unabhängige Carlo Mollino war in jungen Jahren neben seinem Architekturstudium enthusiastisch auch als Skilehrer, Rennfahrer und Kunstflieger aktiv. Nach dem Zweiten Weltkrieg realisierte er mit gleicher Hingabe seine künstlerischen Phantasien. Er entwarf für sich zwei Wohnorte: eine heute nicht mehr existierende Villa, in der er ausschließlich fotografierte – Mollinos Po­laroids von Frauen in delikater Unterwäsche wurden wegen der aufwendigen Retuschen, mit de­nen er sie zu „Gemälden“ perfektionierte, bekannt – und eben die surrealistische Wohnung in der Via Napione. Im Wohnzimmer steht eine Schaukelliege von Thonet neben zwei riesigen Muscheln, davor liegt ein Zebrafell. Gemeinsam ist den drei so unter­schiedlichen Objekten, dass sie ihre Struktur offen zur Schau stellen, was Mollino als Anregung für seine eigenen organisch geformten Möbel diente. Die aufwendigen Holzkonstruktionen, die er entwarf, wurden nur als Einzelstücke gefertigt; gegenwärtig erzie­len sie Höchstpreise auf Auktionen.
Zwei von Mollinos wenigen Bauten stehen ebenfalls im Zentrum Turins. Der Palazzo degli Affari (1972) ist ein am Erschließungskern abgehängtes, dreistöckiges Bürogebäude mit futuristisch anmutender Fassade aus vorgefertigten Aluminiumglas-paneelen; das üppig ausgestattete Nuovo Teatro Regio (1973) setzt mit seiner an den späten Frank Lloyd Wright erinnernden Ornamentik gesellschaftliche Ereignisse würdig in Szene.
Die Existenz des Museo Casa Mollino mit seiner ungebrochen privaten Atmosphäre verdankt sich dem Engagement von Fulvio Ferrari und seinem Sohn Napoleone, inzwischen die besten Kenner Mol­linos. Anhand von Fotos haben sie die Inneneinrichtung, soweit sie nicht mehr vorhanden war, weitgehend wiederhergestellt. Sie führen den Besucher mit großer Begeisterung durch die Räume. Zu welchem Zweck nur wurde diese ganz eigene Welt erschaffen? Mollino, der hier kaum wirklich gewohnt hat, kreierte eine Atmosphäre wie im Set eines Films, über dessen Drehbuch sich trefflich spekulieren lässt.



Fakten
Architekten Carlo Mollino (1905–1973)
Adresse Via Napione 2, 10124 ­Torino


aus Bauwelt 9.2011
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