Bauwelt

Baugruppe „Am Urban“


Das Eigenheim im Krankenhaus


Text: Kleilein, Doris, Berlin


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    Foto: Jörg Frank

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Die Baugruppe „Am Urban“ betreibt private Stadtentwicklung im großen Stil: 140 Bauherren haben gemeinsam ein ehe­ma­liges Krankenhausgelände in Berlin-Kreuzberg gekauft, Graetz Architekten haben den Bestand saniert und umgebaut. Wird es ihnen gelingen, diese „Stadt in der Stadt“ offen für alle zu halten?
Das „Krankenhaus Am Urban“ hatte seine besten Tage längst hinter sich: 1887–90 nach Pariser Vorbild in offener Pavillonbauweise errichtet, war es im Zweiten Weltkrieg zu einem Drittel zerstört worden und galt bereits in den 60er Jahren als nicht mehr sanierungsfähig. Der Neubau des Urbankrankenhauses, ein achtgeschossiger Bettenturm auf V-förmigem Grundriss, wurde 1970 nur wenige Schritte entfernt am Landwehrkanal errichtet und lies die Altbauten vollends obsolet werden. Zwar waren dort noch Einrichtungen der Psychiatrie und die Personalverwaltung untergebracht, doch das von Backsteinmauern und altem Baumbestand gerahmte Areal verwilderte zusehends: eine aus der Zeit gefallene „Stadt in der Stadt“, mitten im belebten Kreuzberger Graefekiez. Ein Filetstück für Investoren. Was dann nach 2007 geschah, liest sich wie eine Berliner David-gegen-Goliath-Geschichte, aber auch wie eine Parabel von Privatisierung und Privatinitiative. Seit kurzem wohnen auf dem Areal an der Urbanstraße etwa 300 Erwachsene und an die 100 Kinder.
Eigenbedarf und Größenwahn
2007 bot das landeseigene Berliner Krankenhausunternehmen Vivantes das 2,6 Hektar große Areal mit insgesamt 19 Gebäuden zum Kauf an. Ebenso wie der Liegenschaftsfonds Berlin ist das Unternehmen verpflichtet, Immobilien zum Höchstpreis zu verkaufen – eine Praxis, die zunehmend in die Kritik gerät, zumal bei zentralen Liegenschaften in der Größenordnung des Krankenhausgeländes. Das in der Nachbarschaft wohnende Architektenpaar Mary-France Jallard Graetz und Georg Graetz interessierte sich ursprünglich nur für die ehemalige Leichenhalle an der Dieffenbach-, Ecke Grimmstraße, um dort Büro und Familienleben unter ein Dach zu bringen. Aus dem Eigenbedarf wurde die Idee geboren, weitere Mitstreiter zu suchen und als Baugruppe in das Bieterverfahren einzusteigen. Ein wahnwitziges Unterfangen, wie die Architektin erläutert (Interview Seite 24). Die Gruppe hatte weder genügend Eigen­kapital, noch gab es zu diesem Zeitpunkt einen gültigen Bebauungsplan. Durch Mundpropaganda im Kiez wuchs die Baugruppe rasch an, durch die Einbeziehung des Bezirks gelang es innerhalb kurzer Zeit, den B-Plan mit den Ämtern abzustimmen und das Areal in ein Wohngebiet umzuwidmen. Auch eine Bank wurde gefunden, die die unterschiedlich solventen Selbstnutzer finanzierte. 13,5 Millionen Euro, zur Hälfte Eigenkapital, bot die in der Zwischenzeit gegründete „Am Urban Grundstücks Gesellschaft GmbH & Co. KG“ schließlich 2008 für das Areal und setzte sich damit gegen internationale Investoren durch.
Nun sind Baugruppen bereits seit einigen Jahren die Impuls­geber auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Doch die Baugruppe „Am Urban“ schlägt ein neues Kapitel auf hinsichtlich der Größe (140 Mitglieder, 16.500 Quadratmeter Nutzfläche), des Investitionsvolumens (45 Millionen Euro) – und des zivil­gesellschaftlichen Engagements. Denn auf dem Gelände sind nicht nur Wohnungen, Reihenhäuser und Gewerbeflächen entstanden, sondern auch zwei Einrichtungen für psychisch kranke Menschen. Es ist die Nähe zum Krankenhaus, die diese ungewöhnliche Mischung begünstigt hat, aber auch die Of­fenheit der Bewohner: Welcher Bauträger hätte auch nur im Traum daran gedacht, Eigentumswohnungen und eine psychi­atrische Tagesklinik auf dem selben Gelände unterzubringen, ohne jegliche Abgrenzung? Schaffen es diese „neuen Investoren“ tatsächlich, mit lokalem Wissen und sozialem Gewissen ein Stück gemischte Stadt auf dem freien Markt aufzubauen?     
Ein wenig Paris, ein wenig Berlin
Beim ersten Besuch wirkt das autofreie Gelände ruhig und gediegen, ein wenig Paris, ein wenig Berlin, nur ohne das Straßenleben. Die Fassaden des Bestands – prototypische Berliner Backsteinarchitektur nach Schinkel’schem Vorbild mit Eckrisaliten, Gesimsbändern, Terrakotten und den charakteristischen roten Streifen in der gelben Ziegelfassade – wurden saniert und nur leicht modifiziert: An jedem Bestandsgebäude, so der Kompromiss mit dem Denkmalamt, blieb jeweils eine Fassadenabwicklung unverändert, die andere konnte mit Balkonen und Fenstertüren zu den Höfen geöffnet werden. Die Dächer sind neu mit Zinkblech eingedeckt, die Höfe zwischen den Häusern Gemeinschaftsfläche; noch gibt es keine Zäune. Die Maßnahmen, die die Architekten und Landschaftsplaner ergriffen haben, zielen auf eine Anmutung von 19. Jahrhundert: Ein Bunker von 1940 wich einer Freifläche im Zentrum der Anlage, die „in Anlehnung an die bauzeitliche Situation“ gestaltet wurde. Die nachträglich hinzugefügten Bauteile aus den 50er Jahren und diverse Kleinbauten wurden abgerissen, gusseiserne Zäune und Tore nach historischem Vorbild wiederhergestellt. Man hätte auch die Brüche und die verschiedenen Zeitschichten betonen können – doch das wäre eindeutig ein anderes Konzept. Es erstaunt etwas, dass sich die aus 140 Bauherren zusammengewürfelte Gemeinschaft aus Kreuzberg und Umgebung für eine gestalterisch eher konservative Haltung entschieden hat. Lediglich die vielen Fahrräder, Klappstühle und Reste der langwierigen Baustelle durchbrechen die würdevolle, ein wenig steife und in Berlin selten anzutreffende Atmosphäre eines Kurorts des 19. Jahrhunderts. Die beiden Neubauten auf dem Areal – die Reihenhäuser auf der Gartenachse und das noch in Bau befindliche Haus für betreutes Wohnen an der Urban-/Ecke Grimmstraße – sprechen wiederum eine Sprache für sich: Mit Putzfassade und Fensterbändern sind sie im Retro-Stil der 30er-Jahre-Moderne gehalten, dem sich Graetz Architekten auch in anderen Bauvorhaben verschrieben haben.
4000 Quadratmeter Galeriefläche
So homogen der Außenraum und die Fassaden gestaltet wurden, so anarchisch sind die Innenräume. Die großen Bettensäle mit den preußischen Kappendecken, in denen einst jeweils 32 Patienten untergebracht waren, wurden in unterschiedlich zugeschnittene Townhouses unterteilt: Die neuen Einheiten durchmessen die Gebäudetiefe von Hof zu Hof und sind je nach Budget ein oder zwei Fensterachsen breit. Die meisten Eigentümer haben die Raumhöhen von bis zu fünf Metern genutzt, um Galerien einzubauen, sodass sich viele Wohnungen über vier oder fünf Ebenen erstrecken. Mehr als 4000 Quadratmeter Galeriefläche, so die Architekten, habe man insgesamt eingezogen. In den Kopfbauten zu beiden Seiten der ehemaligen Säle sind zum Teil Maisonettes, zum Teil Etagenwohnungen entstanden. Die individuellen Zuschnitte und Sonderwünsche, und vor allem auch die Innendämmung der denkmalgeschützten Fassaden und der notwendige Neubau der Dachstühle haben dazu geführt, dass die Preise im Verlauf der Planungs- und Bauphase immer weiter stiegen: 2000 bis 2300 Euro pro Quadratmeter (inklusive Kaufpreis) hatten die Architekten anfangs kalkuliert, am Ende lagen die Preise zwischen 2500 und 3500 Euro. Einige Mitglieder der Baugruppe haben auf halbem Weg aufgegeben. Alle anderen haben viel investiert, können sich einer Wertsteigerung aber sicher sein.
Eine Insel für Besserverdienende?
Es wäre ein Leichtes, die vorrangig von Akademikern bewohnte Anlage mit dem Etikett „gated community“ zu versehen, ein Kampfbegriff der Berliner Stadtentwicklungspolitik. Doch das würde dem Projekt nicht gerecht werden. In der Außenwahrnehmung dominiert die Backsteinmauer, die das Krankenhausgelände nach wie vor von der verkehrsreichen Urbanstraße abgrenzt und viel zur Beschaulichkeit beiträgt. Tatsächlich hat das Areal vier sehr unterschiedliche Seiten. Neben der harten Kante nach Süden gibt es die geschlossene Häuserwand mit Vorgärten entlang der Dieffenbachstraße im Norden. Für die Einbindung in das Quartier sind vor allem die halboffenen Schmalseiten wichtig. Ursprünglich war die Westseite die repräsentative Eingangsseite, im Osten fand die Anlieferung statt. Die neuen Eigentümer haben die Hierarchie um 180 Grad gedreht: Heute liegen die beiden Hauptzugänge, die Gewerbeflächen und der öffentliche Veranstaltungsraum „Kapelle Am Urban“ im Osten, an der Grimmstraße. Die interessanteste Seite aber ist die Westseite: Dort öffnet sich die Anlage zum Bettenhochhaus des Urbankrankenhauses. Es gibt einen fließenden Übergang zwischen Wohnen und Krankenhaus, wie man ihn eigentlich nicht kennt: Die Patienten der Tagesklinik sitzen auf Bänken und rauchen, die Bewohner sitzen in ihren großen Wohnküchen am Esstisch. Das ehemalige Verwaltungsgebäude ist jetzt bewohnt. Seine städtische Fassade zeigt an dieser Stelle auf eine kleine Grünfläche, auf der bis zur Sprengung 1953 die Melanchthonkirche stand. Der über zwei Geschosse geführte Torbogen des Haupteingangs wurde verglast, dahinter liegt, ein wenig unpassend exponiert, eine jener Wohnküchen. Langfristig wollen die Architekten, ganz im Sinne der Stadtreparatur, die Zufahrt zur Tiefgarage des Krankenhaus umbauen und einen „Platz Am Urban“ gestalten.
Die Schlüssel in der Hand
Bleibt die Frage: Wie lange wird sich diese Offenheit halten lassen? Der Weg, der über das Gelände führt, ist für alle zugänglich, die Tore stehen Tag und Nacht offen. Doch das Gelände ist Privateigentum, die Öffnung hängt vom Goodwill der Eigentümer ab. Der Bezirk hätte gut daran getan, sich eine öffentliche Durchwegung zu sichern, aufgrund der Privatisierungpolitik des Senats fehlte ihm dazu jedoch die rechtliche Handhabe. Die Bewohner haben die Schlüssel in der Hand, sie tragen die Verantwortung für dieses besondere Stück Stadt in der Stadt.



Fakten
Architekten Graetz Architekten, Berlin; Klaus Meibohm, Berlin; Ingenieurbüro für Tragwerksplanung Christian Müller, Berlin
Adresse Dieffenbachstraße 5, Kreuzberg, Berlin


aus Bauwelt 47.2012
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