Bauwelt

„Je drängender das Problem, desto mehr wird es geleugnet“

In vielen Städten und Gemeinden in den westdeutschen Bundesländern glaubt man noch immer, dass jedes neu ausgewiesene Einfamilienhausgebiet ein gutes Zeichen ist. Doch der sachliche Blick auf den Bestand gibt vielerorts Anlass zur Sorge: Überalterung der Bewohner, gestrige Wohngrundrisse, mangelhafte Infrastruktur. Ein Forschungsprojekt der Wüstenrot Stiftung analysiert Probleme und Perspektiven

Text: Schultz, Brigitte, Berlin; Ballhausen, Nils, Berlin

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    Christina Simon-Philipp
    Foto: Thomas Wolf

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    Reihenhäuser im Gebiet Willbecker Hang, Stadt Erkrath (bei Düsseldorf)
    Foto: Thomas Wolf

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    Reihenhäuser im Gebiet Willbecker Hang, Stadt Erkrath (bei Düsseldorf)

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    Die Doppelseite aus dem Kapitel „Bestandsaufnahme“ zeigt die Verteilung der Bausubstanz sowie negative und positive Faktoren, aufgeschlüsselt nach Landkreisen: In den Ballungsräumen um München, Stuttgart oder Frankfurt am Main ist das Modell Einfamilienhaus nach wie vor gesucht, in randständischer Lage wird es zum Problem.

    Literatur: Die Zukunft von Einfamilienhausgebieten aus den 1950er bis 1970er Jahren. Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Nutzung. Wüstenrot Stiftung (Hg.) Ludwigsburg/ Berlin 2012

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    Die Doppelseite aus dem Kapitel „Bestandsaufnahme“ zeigt die Verteilung der Bausubstanz sowie negative und positive Faktoren, aufgeschlüsselt nach Landkreisen: In den Ballungsräumen um München, Stuttgart oder Frankfurt am Main ist das Modell Einfamilienhaus nach wie vor gesucht, in randständischer Lage wird es zum Problem.

    Literatur: Die Zukunft von Einfamilienhausgebieten aus den 1950er bis 1970er Jahren. Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Nutzung. Wüstenrot Stiftung (Hg.) Ludwigsburg/ Berlin 2012

„Je drängender das Problem, desto mehr wird es geleugnet“

In vielen Städten und Gemeinden in den westdeutschen Bundesländern glaubt man noch immer, dass jedes neu ausgewiesene Einfamilienhausgebiet ein gutes Zeichen ist. Doch der sachliche Blick auf den Bestand gibt vielerorts Anlass zur Sorge: Überalterung der Bewohner, gestrige Wohngrundrisse, mangelhafte Infrastruktur. Ein Forschungsprojekt der Wüstenrot Stiftung analysiert Probleme und Perspektiven

Text: Schultz, Brigitte, Berlin; Ballhausen, Nils, Berlin

Frau Simon-Philipp, in einem Forschungsprojekt der Wüstenrot Stiftung haben Sie neunundzwanzig ältere Einfamilienhausgebiete auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik untersucht. Wie groß ist das Forschungsfeld?
Im Wohnungsbestand der alten Bundesrepublik ist ungefähr jedes dritte Wohngebäude ein Einfamilienhaus aus der Zeit zwischen 1949 und 1978. Jede fünfte westdeutsche Wohneinheit liegt in solch einem Einfamilienhausgebiet. Das sind rund 15 Millionen Wohneinheiten. In „entspannten“ Wohnungsmärkten, das belegt unsere Studie, verlieren sie gegenwärtig als Wohnstandort an Bedeutung.
Was ist das Problem?
Die Gebäude sind in die Jahre gekommen, das jeweilige Wohnumfeld weist Defizite auf und der Generationenwechsel schreitet voran oder steht bevor. Bislang galten genau diese Einfamilienhausgebiete der Nachkriegsjahre als Selbstläufer. Aber die vielfältigen Veränderungsprozesse führen bereits in manchen Gebieten zu Entwicklungen, die ein planerisches Handeln erforderlich machen.
Wodurch haben diese Wohngebiete an Attraktivität verloren?
Nur jeder zweite Deutsche im mittleren Lebensalter lebt heute noch in einer Eltern-Kind-Gemeinschaft. Die Zielgruppe, die einst diese Häuser baute, wird kleiner, stattdessen entstehen mehr Single-Haushalte. Die Präferenz für urbane, gut erschlossene Standorte führt zu einer Verschiebung der Nachfrage. Für viele Lebensentwürfe ist ein Einfamilienhausgebiet in der Peripherie ungeeignet. Familien, in denen beide Partner arbeiten, bevorzugen andere Wohnstandorte als die Großelterngeneration.
Die Defizite waren ja bereits in die Struktur eingebaut. Ist das früher, als die Bewohner noch jung und tatkräftig waren, nur nicht aufgefallen?
Die Anforderungen an das Wohnumfeld und die Infrastruktur blieben lange Zeit gleich. Die Standorte waren auf das „klassische“ Familienmodell ausgerichtet – der Vater fährt mit dem Auto zur Arbeit, und die Frau bleibt mit den Kindern im Haus mit Garten. Die Grundrisse und die Energiebilanz der Häuser sind in jener Zeit stehengeblieben.
Was lässt sich beobachten?
In vielen Einfamilienhausgebieten gibt es „innere Leerstände“, eine „hidden emptiness“, wo vielleicht noch eine alte Dame allein auf 200 Quadratmetern wohnt. Aus unseren qualitativen Interviews mit Immobilienmaklern ergab sich, dass viele ältere Menschen, die ihr Haus verkaufen und umziehen wollen, den Wert ihrer Immobilie vollkommen überschätzen. Für einen realistischen Verkaufspreis können sie keine seniorengerechte Wohnung in der Stadt finden, also bleibt zunächst alles so wie es ist. Das führt auf Dauer zu Verwerfungen, die ein Handeln von Seiten der Kommune erfordern, natürlich auch der Eigentümer. Die Häuser verkaufen sich schon lange nicht mehr von selbst.
Gibt es bei den Bewohnern dieser Gebiete ein Problembewusstsein?
Es gibt Nachbarn, die sich zusammentun und bei einem leerstehenden Haus den Rasen mähen oder die Hecke schneiden, um zu verhindern, dass der Leerstand sichtbar wird. Aber viele verschließen einfach die Augen vor dem Problem.
Und die Kommunen?
Unser Eindruck ist: Je kleiner die Kommune, je überalterter ihre Einwohnerschaft, je dringender also der Handlungsbedarf ist, umso stärker wird das Problem verdrängt. „Wir wollen den Standort nicht schlecht reden“ oder „Das wird sich schon wieder entwickeln“, lauten dann die Aussagen. Mancherorts meint man, sich zunächst stärker um die Belebung der Innenstadt kümmern zu müssen. Zweifellos ein dringliches Problem vieler Kommunen, aber eben nicht das einzige.
Ist es nicht Privatsache, ob Hauseigentümer sich mit ihrem Besitz verspekuliert haben?
Wenn die Städte eine flächensparende Stadt- oder Gemeindeentwicklung wollen, dann kommen sie nicht umhin, sich auch um diese Gebiete zu kümmern. Wenn man sagt, man kümmert sich um die Innenentwicklung und versucht, mit dem Bestand umzugehen, dann gibt es gerade in diesen sehr niedrig verdichteten Gebieten ein großes Potenzial, sie dem neuen Bedarf anzupassen, sie gezielt umzustrukturieren. In der Studie haben wir verschiedene Strategiebausteine entwickelt, wie das möglich ist.
Welche sind das?
Sie unterscheiden sich nach Ort und Lage des Gebiets. Wir haben Gebiete, in denen Rückbau eine Frage sein wird, in anderen wird es um Nachverdichtung gehen. Eine sensible Geschichte, auch gestalterisch: Wie kann man sie weiterentwickeln, ohne den Gebietscharakter zu zerstören? Wie kann man eine homogene Einfamilienhausstruktur in unterschiedlich große Wohnungen umbauen, um eine stärkere Mischung der Bewohnerschaft zu erzeugen. Wie lässt sich die einseitige Infrastruktur verbessern? Dass es zu großflächigen Abrissmaßnahmen kommen wird, glaube ich nicht. Vielen Kommunen wird erst durch die Erarbeitung von Demographieberichten dieses Themas bewusst werden. Und wir wissen aus unseren Befragungen, dass manche Kommunen keinen Überblick hatten, wo ihre Einfamilienhausgebiete aus jener Zeit überhaupt liegen. Als die Karte erstellt war, hieß es oft: „Ach, so viele!“
Was passiert, wenn die Gemeinden abwarten – nach der Devise: Der Markt wird’s regeln?
Es regelt sich auf keinen Fall von allein. Der erste Rat an die Kommunen ist, diese Gebiete kontinuierlich zu beobachten, was bisher selten der Fall war. Nach unseren Studien war man dort oft erstaunt über den tatsächlichen Altersdurchschnitt oder das Ausmaß des Leerstands. Wichtig für die Kommunen ist, sich erst einmal Datengrundlagen zu verschaffen.
Welche Perspektive haben die Bestandsgebäude?
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass der Bestand in vielen Regionen nicht als Alternative zum Neubau gesehen wird. Die Vertreter der Kommunen sagten uns in den Interviews, dass der Bestand an Einfamilienhäusern kein Neubaugebiet am Stadtrand ersetzt. Sie müssten sie aber ausweisen, allein schon, um die jungen
Familien am Ort zu halten.
Wo sehen Sie richtige Ansätze?
Es gibt Kommunen, die Stadtentwicklungskonzepte aufgestellt haben, in denen explizit dieser Gebietstyp im Fokus ist. Auf der Ebene der Bundesländer setzt sich die Oberste Baubehörde in Bayern in einem Modellvorhaben mit dem Thema auseinander, ebenso die „Regionale“ in Nordrhein-Westfalen; aber in Baden-Württemberg beispielsweise ist das alles noch gar kein Thema.
Nennen Sie uns ein paar Beispiele aus Ihrem Handlungsbaukasten, die nicht aufwendig sind, aber dennoch eine Wirkung haben?
Es gibt nur wenige Kommunen, die eigene Förderprogramme auflegen können. Im Folgeprojekt der Wüstenrot Stiftung, das wir gerade bearbeiten, stellen wir fest, dass die Moderation von Eigentümerinteressen, die Unterstützung von Bewohnerinitiativen oder Beratungsangebote, die die Nachfrage eher in den Bestand lenken, schon mit kleinen finanziellen Anreizen gut funktionieren.
Solange in der Nachbargemeinde nicht ein neues Baugebiet ausgewiesen wird. Müsste man nicht übergeordnet einen absoluten Stopp der Ausweisung von Neubaugebieten für Einfamilienhäuser fordern?
Ja, in vielen Fällen unbedingt. Ich denke, dass da auf höherer Ebene etwas passieren müsste, um insgesamt den Blick mehr in den Bestand zu lenken. Aber mein Eindruck ist, dass dies zurzeit nicht passiert.
Welche Instanz könnte hier tätig werden?
Ich sehe gewisse Möglichkeiten in der Steuergesetzgebung, z.B. in der Differenzierung der Grunderwerbssteuer und der Grundsteuer sowie in der Ausgestaltung des Bau- und Planungsrechtes. Die Pendlerpauschale und die Eigenheimzulage haben über Jahrzehnte hinweg diese Strukturen gefördert, warum sollte der Staat
nun vor der Lösung der Probleme zurückschrecken? Ich bin für den Stopp einer Ausweisung von Bauland für Einfamilienhäuser in vielen Fällen, aber ob das politisch umsetzbar ist?
Es wäre das Ende der Kirchturmpolitik.
Die Konkurrenz unter den Kommunen ist nach wie vor stark, und mein Eindruck ist: Je problematischer die demographische Entwicklung in der Kommune, desto mehr Neubaugebiete werden ausgewiesen – das ist vollkommen kontraproduktiv. Das ist Politik, die man gewohnt ist: Die Kommune muss wachsen und die neuen Einwohner gehen ins Neubaugebiet.
Was kann der Gesetzgeber tun?
Im Baugesetzbuch ist bereits der Vorrang der Innenentwicklung festgeschrieben. Es müsste den Kommunen darüber hinaus erleichtert werden, die reinen Wohngebiete, die durch nichts anderes durchmischt werden können, in allgemeine Wohngebiete oder sogar in Mischgebiete umzuwandeln. Das ist alles sehr schwierig. Da sagen Ihnen die Immobilienmakler: „Um Gottes Willen, das sind ja genau die Gebiete mit dem höchsten Wohnwert!“
Gibt es da einen Konflikt der Planer mit dem Rest der Bevölkerung?
Alle Strategien, die den Wohnwunsch Einfamilienhaus missachten, werden zwangsläufig ins Leere laufen. Aber diesen starken Wunsch nach dem Wohnen ohne Störung durch andere und mit eigenem Garten, kann man versuchen, in anderen Modellen abzubilden, wie es zum Beispiel in den Baugruppen in Tübingen geschehen ist. Die Lösung liegt in einer stärkeren Durchmischung und passenden infrastrukturellen Ergänzungen, damit in diesen Monostrukturen ein Quartiersleben entstehen kann.
Die Fragen stellten Brigitte Schultz und Nils Ballhausen
Fakten
Architekten Simon-Philipp, Christina, Stuttgart
aus Bauwelt 48.2014
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