Bauwelt

Barcelona – die offene Stadt. Nur, wo sind die Flüchtlinge?

Barcelona positioniert sich als Stadt der Flüchtlinge. „Refugees Welcome“ steht auf einem Banner am Rathaus – eine Provokation der Stadtregierung gegenüber dem spanischen Staat, der kaum Flüchtlinge ins Land lässt. Ignasi Calbó, Direktor ­des Programms „Barcelona Refugee City“, ist überzeugt: Es sind die Städte, die eine Lösung ­für die Integration von Flüchtlingen in Europa finden werden.

Text: Meyer, Friederike, Berlin

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    Inmitten der von Touristen bevölkerten Altstadt macht ein Banner am Rathaus die Haltung der Stadt Barcelona deutlich.
    Foto: SJH Photography/Alamy Stock Foto

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    Ignasi Calbó empfängt in seinem Büro im Rathaus von Barcelona.
    Foto: Catalina Mojica

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    Ignasi Calbó empfängt in seinem Büro im Rathaus von Barcelona.

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    Eine Stele am Strand von Barcelona zeigt die Zahl der Menschen, die seit Beginn des Jahres bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ertrunken sind. Bei Druck­legung dieser Ausgabe ­waren es bereits 4742.
    Foto: Jordi Boixareu/Alamy Stock Photo

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    Eine Stele am Strand von Barcelona zeigt die Zahl der Menschen, die seit Beginn des Jahres bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ertrunken sind. Bei Druck­legung dieser Ausgabe ­waren es bereits 4742.

    Foto: Jordi Boixareu/Alamy Stock Photo

Barcelona – die offene Stadt. Nur, wo sind die Flüchtlinge?

Barcelona positioniert sich als Stadt der Flüchtlinge. „Refugees Welcome“ steht auf einem Banner am Rathaus – eine Provokation der Stadtregierung gegenüber dem spanischen Staat, der kaum Flüchtlinge ins Land lässt. Ignasi Calbó, Direktor ­des Programms „Barcelona Refugee City“, ist überzeugt: Es sind die Städte, die eine Lösung ­für die Integration von Flüchtlingen in Europa finden werden.

Text: Meyer, Friederike, Berlin

Herr Calbó, in einer Rede erwähnten Sie sechs Mythen über Europa und Migration. Wie lauten diese?
Erstens: Es gibt keine Flüchtlingskrise. Nennen wir sie bei ihrem richtigen Namen: Krise der Menschenrechte. Zweitens ist diese Krise nicht ein- oder erstmalig, gerade erst haben wir aus Bos­nien und Ruanda nichts gelernt. Drittens ­­ist es keine europäische Krise, fragen wir mal in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien nach. Viertens ist es keine Flut oder Schwemme. 2015 machten die Flüchtlinge gerade einmal 0,2 % der europäischen Bevölkerung aus. Fünftens gibt es nicht die eine europäische Antwort, die Kompetenzen in den europäischen Ländern sind verschieden verteilt. Sechstens: Die Antwort wäre eine Angelegenheit auf der Ebene des Staates, aber 80 Prozent der Migranten und Asylsuchenden gehen in die Städte.
„Refugees Welcome” steht auf einem Spruchband am Rathaus von Barcelona. Die Stadt hat sich selbst zur „Refugee City“ erklärt. Aus welchem Grund?
Barcelona war schon immer eine Stadt der In­te­gration. Für jemanden aus Barcelona ist es normal, Nachbarn aus fremden Ländern zu haben. 2014 waren 17,2 Prozent der Einwohner der Stadt nicht spanischer Nationalität. Das größte Kon­tin­gent stellt Italien, gefolgt von Pakistan und China. Im Rathaus gibt es sieben Parteien, die Stad­­­­t­­­re­gierung ist in der Minderheit. Migration aber kennt hier kaum eine Gegnerschaft. Einen geregelten Umgang mit Migration gibt es schon seit dem Übergang zur Demokratie.
Wie viele Menschen kommen überhaupt nach Barcelona?
Zwischen 2000 und 2010 hatten wir im Durchschnitt 25.000 Migranten pro Jahr. Nachdem die Zahlen während der Wirtschaftskrise sanken, steigen sie nun wieder. Allerdings haben wir im Vergleich mit anderen europäischen Städten wenige Asylbewerber. Wie viele Flüchtlinge in der Stadt sind, wissen wir allerdings nicht genau.
Auf welchem Weg kommen die Menschen?
Auf den unterschiedlichsten Wegen. Die meisten Migranten reisen legal über die Häfen und Flughäfen ein. Die Behauptung einer Flüchtlingswelle oder Überflutung durch Illegale ist unbegründet. Flüchtlinge sind VIP-Migranten. Sie haben das Recht auf eine Unterkunft. In der Regel bewohnen sie für sechs Monate eine der Wohnungen der NGOs. Migranten dagegen leben auf der Straße und schlafen in Notunterkünften. Die Verfassung kennt keinen Schutz für jedermann.
Wie empfängt Barcelona Flüchtlinge?
Zuerst einmal: Die Ankommenden wollen nicht in Lagern leben. Zweitens: Mit der Integration muss man vom ersten Tag an beginnen. Es ist ein Fehler, die Menschen in Gettos zu stecken und sie warten zu lassen. Schon sechs Monate sind zu lange, um bloß rumzusitzen. Wenn man nicht gleich mit Sprachkursen und Beschulung beginnt, wird es umso schwerer.
Wie vermeidet Barcelona diese Fehler?
Wir haben keine Parallelstrukturen. Wir versuchen, die Flüchtlinge über die ganze Stadt zu verteilen. Sie erhalten Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen. Mit verschiedenen Kam­pagnen treten wir dem Gerede entgegen, dass ­Migranten mehr Leistungen aus dem Gesundheitswesen erhalten als die Einheimischen. ­­­Sie sind jung und gesund und brauchen keine Medikamente. Unsere Bevölkerung hingegen ist ziemlich alt und läuft dauernd zum Arzt.
Wie lautet Ihr Rezept für eine gelungene Inte­gration?
Es gibt keine Zauberformel. Bildung ist die Grundlage. Wenn nur einer aus einer Migrantenfamilie integriert ist, vielleicht in der Schule oder im Sport, fängt die ganze Familie an, sich ­zu in­tegrieren. ­­In Barcelona gibt es tausende Vereine für alles und jedes, ich bin sicher, auch einen Club der Architekten. Wir ermuntern die Leute, einem Verein beizutreten, zu versuchen, andere kennenzulernen. Ebenso wichtig ist die Spra­che. Spricht ein Migrant katalanisch, wird das wohlwollend bemerkt. Allen steht ein kostenloser Sprachkurs zu. Und auch die Geographie der Stadt kommt uns zu Hilfe. Barcelona ist sehr dicht bebaut. Hier gibt es keinen Platz für ein Ghetto.
Es scheint, als hätte Barcelona keine Probleme mit Migration und Flüchtlingen?
Natürlich gibt es kleinere Probleme mit Krimi­­­­-na­lität bei Migranten, aber rassistisches Ver­halten wird hier überhaupt nicht gern gesehen. Ein Problem für die Stadt ist vielmehr die Wohnungsnot. Auch der Tourismus ist zu einem geworden. Airbnb und andere Internetanbieter ­für Unterkünfte nehmen Mietern viele Angebote weg, denn ein Vermieter kann mit der Ver­mietung an Touristen ein besseres Geschäft machen.
In Deutschland wird darüber diskutiert, wie groß Flüchtlingsunterkünfte sein sollten und wie sie innerhalb einer Stadt verteilt werden. Vermutlich kennt Spanien eine derart spezielle Diskussion überhaupt nicht.
Das Hauptproblem ist: Spanien ist kein Land für Flüchtlinge. 2015 gab es in Spanien 14.785 Asylanträge, gerade einmal 1,1 Prozent der EU insgesamt. Der Staat zahlt 30 Euro pro Tag und Per­-son und unterhält ganze zwei Unterkünfte im Land. Alles andere liegt in den Händen der NGOs.

Aber es muss doch ein Konzept geben.
Das spanische Flüchtlingsprogramm läuft unter der Federführung des Innen- und des Arbeitsministeriums in Madrid. Es gibt ständige Wechsel in den Verfahren und Kriterien, wer Asylberechtigt ist und wer nicht, für wie lange und welche Hilfe einem Asylbewerber zusteht. Drei NGOs kümmern sich um die soziale Betreuung im ganzen Land. Es gibt keinerlei Absprachen auf loka­ler oder regionaler Ebene. Die Kommunen erhalten keine Beihilfen.
Stattdessen werden Millionen Euros in den Grenzschutz der spanischen Enklaven in Nordafrika investiert.
Man kann das Durchkommen erschweren, aber nicht verhindern.
Die Flüchtlinge, die es geschafft haben – wie werden sie im Land verteilt?
Wir kennen keinen Königsberger Schlüssel wie in Deutschland. Aber die Verteilung ist zentral organisiert. Man bekommt eine Nummer und gesagt, wo es einen freien Platz gibt. So kann es vorkommen, dass jemand in Barcelona ankommt und das System schickt ihn oder sie nach Cádiz, weil dort gerade ein Platz frei ist.
Gibt es ein EU-Budget für Flüchtlinge?
Es gibt diesen großen Sozialfonds für die Mitgliedstaaten. Von dem Geld, das Spanien erhält, gehen 30 Prozent an Willkommensprogramme und Integrationsmaßnahmen, 70 Prozent in die Grenzsicherung und an Frontex. So heißt Spanien Flüchtlinge willkommen.
Barcelona ist Mitglied von Eurocities. Was sind die Ziele des Netzwerkes?
Europa ist ein Staatengebilde. Doch es sind die Städte und Kommunen, die die Aufgaben der Gesellschaft bewältigen. Schläft zum Beispiel jemand auf einem öffentlichen Platz, ist die Stadt gefragt, nicht der Staat. Die Idee von Eurocities besteht darin, auf Ebene der EU ein Netzwerk zu schaffen, das die Bedeutung der Städte herausstreicht. Denn die Städte sind es, die eine Lösung für Europa finden.
Was will Eurocities in Bezug auf die Flüchtlingsfrage erreichen?
Bewusstseinsbildung, größeren politischen Einfluss, finanzielle Mittel für eine Willkommenskultur. Bedrohten und verfolgten Menschen zu helfen ist eine Frage der Menschenrechte. Die europäischen Länder sind Unterzeichnerstaaten. Wir haben uns das nicht ausgedacht.
Wird Europa eine gemeinsame Linie im Umgang mit Migranten und Flüchtlingen finden?
Nicht mit dem Instrumentarium, das es heute gibt. Man kann nicht 28 verschiedene Strategien verfolgen, die alle behaupten, „Europa“ zu sein. Europa muss eine gemeinsame Migrationspolitik finden. Wir sind ein alter, reicher und gebildeter Kontinent, der umgeben ist von fähigen jungen Menschen. Sie wollen kommen und wir brauchen sie.
Aus dem Englischen von Michael Goj
Fakten
Architekten Calbó, Ignasi, Barcelona
aus Bauwelt 41.2016
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