Bauwelt

Eine Schule aus Kartonröhren

Text: Hong, Yin, Chengdu

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Erik-Jan Ouwerkerk

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Erik-Jan Ouwerkerk


Eine Schule aus Kartonröhren

Text: Hong, Yin, Chengdu

Fast auf den Tag genau vier Monate nach dem Erdbeben, das im Mai 2008 die Region Sichuan erschüttert hatte, wurde im Osten der Stadt Chengdu ein provisorisches Schulhaus aus Kartonröhren für die Hualin-Grundschule übergeben.
Die drei Behelfsbauten sollen einen Schulbetrieb ermöglichen, nachdem die alte Schule dem Erdbeben zum Opfer gefallen war.
Dieses Bauwerk ist das erste in China, dessen konstruktives Skelett aus Kartonröhren errichtet ist, und zugleich das erste Wiederaufbauprojekt, das nach der Naturkatastrophe in internationaler Zusammenarbeit fertiggestellt wurde. Verantwortlich für den Entwurf und die Konstruktion waren Shigeru Bans Institut, das Hironori Matsubara Lab der Keio University in Japan und die chinesische Southwest Jiaotong University. Der Entwurf der Grundschule umfasst drei eingeschossige Gebäude, insgesamt 540 Quadratmeter Nutzfläche, verteilt auf neun Klassenzimmer. Finanziert wurde die Schule von einer chinesischen Nichtregierungsorganisation. Auftraggeber waren die örtliche Schulbehörde und Vertreter der Schule. Die Bauarbeiten begannen am 3. August und endeten am 11. September. Leider hielt der Fabrikant der Kartonröhren sein Versprechen nicht, sie als Baumaterial zu spenden. Die internationalen Unterstützer beglichen die Rechnung. Shigeru Ban stellte seinen Entwurf kostenlos zur Verfügung, und achtzig japanische und chinesische Architekturstudenten arbeiteten als freiwillige Helfer einen Monat lang auf der Baustelle.
Entwurf
Shigeru Ban entwirft schon seit den späten achziger Jahren Behelfsbauten aus Karton, insbesondere als Unterstüzung für den Wiederaufbau nach Naturkatastrophen, so zum Beispiel nach Erdbeben im japanischen Kobe, in der Türkei, in Ruanda und in Indien. Schon eine Woche nach dem Erdbeben nahm er Kontakt mit der Southwest Jiaotong University auf, die ihren Sitz in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, hat. Im Juli 2008 veranstalteten die japanische Keio University und die chinesische Southwest Jiaotong University gemeinsam einen Workshop, bei dem es um die Schaffung von Behelfsunterkünften nach der Katastrophe ging. Das Projekt Hualin-Grundschule war das erste, das unmittelbar realisiert wurde. Die Auftraggeber waren spontan begeistert von der Idee, Kartonröhren als Baumaterial der neuen Behelfsschule einzusetzen, und gingen sofort daran, das Konzept der Wiederverwertbarkeit und Nachhaltigkeit dieses Baumaterials mit ihren Schülern im Unterricht zu thematisieren.
Der Entwurf von Shigeru Ban basiert auf einem konstruktiven Gerüst aus Kartonröhren, während für Wand und Dach handelsübliche Gipskartonplatten und Sperrholztafeln vorgesehen waren. Die drei Gebäude sollten weiß gestrichen werden. Shigeru Bans Ziel waren einfache, schlichte und zurückhaltende Bauten, die leicht zu errichten waren.
Der Entwurf fiel allerdings nicht so spektakulär aus, wie die Auftraggeber sich das vorgestellt hatten. Sie wünschten, dass das Baumaterial, also die Kartonröhren, stärker in den Vordergrund treten solle, um die Einzigartigkeit eines solchen Gebäudes noch deutlicher zu betonen. Schließlich aber akzeptierten sie den Entwurf, der knappe Zeitplan für den Bauablauf ließ ohnehin weder größere Änderungen noch ein technisch anspruchsvolleres Projekt zu. Mit dem Beginn der Umsetzung aber wurde den Verantwortlichen klar, wie angemessen der Entwurf tatsächlich war. Gerade dank seiner Einfachheit wirkt die Schule ruhig und sanft. Die Kartonröhren sorgen gemeinsam mit den weißen Wänden und dem hellen Dach für ein klares Erscheinungsbild. Die Leichtigkeit und die weiße Farbe als Ausdruck der Reinheit versprechen Beruhigung und Trost nach den Verwüstungen, die das schreckliche Erdbeben angerichtet hat.
Material
Vor Beginn des Projekts hielt Shigeru Ban eine Vorlesung an der Southwest Jiatong University, in der er Behelfsarchitektur aus Karton vorstellte, um die Regierung von Sichuan und die Wiederaufbauorganisation von seinem Konzept zu überzeugen. Bei der Vorlesung und den anschließenden Treffen mit chinesischen Lokalpolitikern, Architekten und Medienvertretern wurden kritische Fragen zu Karton als Baumaterial gestellt, man erkundigte  sich nach der Funktionalität, der Wasser- und Feuerbeständigkeit, der Tragfähigkeit und nach den Kosten. Als der Entwurf der Hualin-Grundschule vorgestellt wurde, herrschte immer noch große Skepsis hinsichtlich der Tragfähigkeit und Haltbarkeit einer Kartonröhrenkonstruktion. Einige Kritiker forderten den Einsatz von vor Ort verfügbaren Baustoffen wie etwa Stroh, andere wieder verwiesen auf die höheren Kosten der Kartonröhren-Konstruktion gegenüber der Verwendung von Bambus oder anderen regional üblichen Konstruktionsverfahren.
Shigeru Ban stellte sich seinen Kritikern: „Mein Entwurf will keine abstrakte ökologische Idee verwirklichen. Das Projekt hat praktische Zwecke. Ich verwende ein Material, das auf den örtlichen Märkten leicht und preisgünstig zu haben ist. Und ich glaube, das ist für Bauten, die auf kurze Zeit und im Eigenbau errichtet werden sollen, auch gerade richtig.“ Auf die Frage, warum er dann nicht auf ein in Sichuan so weit verbreitetes Baumaterial wie Bambus zurückgegriffen habe, erwiderte Shigeru Ban: „Natürliche Materialien sind nicht in gleichem
Ausmaß genormt wie die in Fabriken hergestellten Kartonröhren. Jeder Bambusstab unterscheidet sich vom anderen. Wir können seine Eigenschaften nicht auf dem Weg üblicher Berechnungen im Einzelnen ermitteln und testen. Außerdem ist unbehandelter Bambus bruch- und splitteranfällig. In dieser Hinsicht sind Kartonröhren einfach die bessere Alternative. Sie lassen sich leicht berechnen und erfüllen die Bedürfnisse unseres Entwurfs. Zwar müssen wir die Kartonröhren aus einer anderen Stadt herbeitransportieren, aber immerhin werden sie in einer chinesischen Fabrik produziert. In Zukunft wird man sie auch in Sichuan herstellen.“
Errichtung
Den größten Nutzen aus dem Projekt ziehen zweifellos die Grundschüler, die nun in neuen großzügigen Klassenzimmern unterrichtet werden, daneben aber auch Architekturstudenten, die an dem gesamten Bauprojekt beteiligt waren. Für sie war das Unternehmen ein Praktikum in Konstruktion und Materialkunde, Bauplanung, Teamwork und internationaler Zusammenarbeit. Von Beginn an – der Vermessung des Baugrunds und der Einbringung der Bodenplatte – arbeiteten japanische und chinesische Architekturstudenten auf der Baustelle Hand in Hand. Die Studenten vermaßen die Kartonröhren, schnitten sie zurecht und lackierten sie. Dann verbanden sie sie zu konstruktiven Bauelementen und brachten diese eines nach dem anderen in Position. Die tragende Konstruktion wurde von den Studenten selbst errichtet, oder sie leiteten die Bauhelfer an und überwachten deren Arbeit. Der konstruktive Entwurf hatte die Schwierigkeiten und Eigenarten des Selbstbaus bereits berücksichtigt. Vorgefertigte Stahlplatten, Schrauben, Nägel und Versteifungsglieder wurden so dimensioniert, dass Baufehler nachträglich korrigiert und so die Stabilität jederzeit sichergestellt werden konnte.
Während der Bauphase musste die studentische Bauleitung die Konstruktionszeichnungen und die Tragwerksplanung an alle im Prozess auftretenden Änderungen anpassen, alle Detailänderungen wurden von einem japanischen Statiker geprüft und freigegeben. Die meisten Änderungen ergaben sich, weil die auf dem örtlichen Markt verfügbaren Materialien und Komponenten nicht den Entwurfserfordernissen genügten. Dieses Problem sorgte wiederholt für Verzögerungen im Zeitplan. Das japanische Team erklärte, dass solche Probleme besonders bei Projekten in Entwicklungsländern aufträten. Die neun aus Kartonröhren errichteten Klassenzimmer sind immer noch in Benutzung und werden bis zur Fertigstellung der neuen Schule ein angenehmes Ausweichquartier für die Schulanfänger sein. Am 12. Mai 2009, genau ein Jahr nach dem Erdbeben, wurde ein Modell eines Kartonröhren-Klassenzimmers der Hualin-Grundschule im Maßstab 1:1 in der Ausstellung: „Brücken: Dialoge über eine Behelfsarchitektur in Katastrophenfällen“ im National Art Museum of China gezeigt. Die Ausstellung traf auf großes Interesse: Viele Menschen beschäftigten sich zum ersten Mal mit Fragen der Behelfsarchitektur und lernten auf die Art und Weise diese innovative Entwurfslösung kennen.
Fakten
Architekten Ban, Shigeru, Tokyo
aus Bauwelt 48.2009
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