Bauwelt

Nobilitierte Hauslandschaften

Zur Architektur der von Bernd und Hilla Becher fotografierten Fachwerkhäuser des Siegener Industriegebiets

Text: Aicher, Florian, Leutkirch

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Nobilitierte Hauslandschaften

Zur Architektur der von Bernd und Hilla Becher fotografierten Fachwerkhäuser des Siegener Industriegebiets

Text: Aicher, Florian, Leutkirch

"Nobilitierte Hauslandschaft" ist eine neue Untersuchung über Fachwerkarchitektur des Siegener Industriegebiets betitelt. Wie das? Bezieht sich Hauslandschaft nicht auf vernakuläres Bauen, Nobilitierung dagegen auf (bau-)künstlerische Bemühung? Galt nicht, dass sich das zueinander verhält wie der Teufel zum Weihwasser? Doch es geht weiter: Die Kunst ist es, die Auslöser und Motor der Wertschätzung dieser Bauweise war: das Buch „Fachwerkhäuser des Siegener Industriegebietes“ von Bernd und Hilla Becher, 1977 erschienen und mit dem weiteren Oeuvre der beiden eines der international renommiertesten und wirkmächtigsten künstlerischen Werke dieses Landes des letzten halben Jahrhunderts – Kunst dem Selbstverständnis der Autoren nach, nicht Reportage. Doch hatten Gegenstand und Art der Bearbeitung Rückwirkungen auf diese Kunst? Ihre erste bedeutende Rezeption in Deutschland verdankt sie Wend Fischer mit einer Ausstellung in der Neuen Sammlung, München, einem Haus, das Design zeigte und dieses seinerzeit entschieden der Kunst entgegensetzte. Musste Wend Fischer diese Art zu Bauen nicht als Vorläufer industriellen Bauens deuten, modern im Verständnis seiner Zeit im Gegensatz zum traditionellen Handwerk? Eine Feststellung, die heutige Bauforschung entschieden zurückweist.
Ist diese Publikation deshalb so spannend, weil sie derartige Dichotomien aufnimmt und gehörig durcheinanderschüttelt? Kunst befördert anonymes Bauen? Handwerkliches Bauen, das industriell erscheint? Aus der Werkstatt, doch der Industrialisierung à la Gropius und Le Corbusier an Effizienz überlegen? Sehr rationell und kunstlos, doch Funktion und Material nicht mehr geschuldet als pietistischem Geist, der keineswegs nur hier wehte, doch nur hier den Geist dieses Ortes begründen half? Und eine Baukultur hervorbrachte, international beachtet und doch dem Untergang preisgegeben?
Entstehung zu Ende des 19. Jhs. und Entwicklung in wenigen Jahrzehnten, regionale Besonderheiten, historische Bedingungen und konstruktive Durchbildung setzt Karl Kiem, der Baugeschichte und Denkmalpflege an der Uni Siegen lehrt, auseinander. Er geht auch dem widersprüchlichen Verhältnis der Bechers zu Konrad Wachsmann nach. Die aus religiösen Quellen gespeiste Mentalität  – kontrolliert, sachlich, gemeinschaftlich – ist Thema des Beitrags von Petra Lohmann, ebenfalls Uni Siegen. Michael Stojan, Stadtbaurat in Siegen, bestätigt die prägende Kraft dieser Bauten noch bis in die 1960er Jahre, gefolgt von Achtlosigkeit und fragt, was Bauten wie Bilder für die Identität der Region zu leisten vermögen. Der Architekturhistoriker und Museumsdirektor Wolfgang Voigt belegt die Leistungsfähigkeit dieser Bauart im Wettstreit mit dem Neuen Bauen der 1920er Jahre, bei Konrad Wachsmann und vor allem Paul Schmitthenner. Daves Rossell und Ken Breisch sind Vertreter der amerikanischen Vernacular Architecute Gruppe; der eine nimmt die „Becher-Houses“ aus der Perspektive amerikanischer Architekturtheorie in den Blick, betont Bauen als sozialen Prozess, der andere verfolgt die hauptsächlich auf deutschstämmige Auswanderer zurückgehende Verbreitung der Fachwerkbauweise in den USA. Mary Pepchinski, die in Dresden Entwerfen und Architekturtheorie lehrt, macht mit der Rezeption der Becherschen Arbeit zwischen photographischer Dokumentation und konzeptioneller Kunst in der New Yorker Kunstszene vertraut. Abgerundet wird das Bild durch ein Gespräch mit Hilla Becher, die nicht zuletzt den steinigen Weg zur Wertschätzung dieser Art anonymen Bauens belegt.
Ein weiter Horizont! Und ein Plädoyer für Aufmerksamkeit gegenüber Alltagbauen – was mehr als Abwesenheit von Hocharchitektur ist; und Bauen einer Region – was weniger dem Geist der Zeit als dem des Ortes gilt. Die Beiträge des Buches machen klar: Beziehungen sind vielfältig, Überraschung eingeschlossen. Beste Voraussetzung, Interesse zu wecken und die Sache selbst lebendig zu halten.
Fakten
Autor / Herausgeber Karl Kiem (Hrsg.)
Verlag Thelem Verlag, Dresden 2015
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aus Bauwelt 3.2016
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