Bauwelt

Urban Refugees in Istanbul

Mehr als drei Millionen Flüchtlinge leben in der Türkei. Auf der Suche nach Perspektiven verlassen viele von ihnen die Flüchtlingslager an der Grenze zu Syrien und ziehen in die Städte der Osttürkei, aber auch nach Istanbul. Wie werden sie dort aufgenommen? Unsere Autorin betrachtet zwei Bezirke der 17-Millionen-Metropole: das Arbeiterviertel Fatih, in dem seit Jahrhunderten Minderheiten leben, und das rasant wachsende Neubauviertel Sultanbeyli.

Text: Priessner, Martina, Istanbul

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    Der Istanbuler Stadtteil Fener-Balat, seit 1980 Weltkulturerbe: unsanierte Straßenzüge mit Blick auf das Goldene Horn
    Foto: Martina Priessner

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    Der Istanbuler Stadtteil Fener-Balat, seit 1980 Weltkulturerbe: unsanierte Straßenzüge mit Blick auf das Goldene Horn

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    Syrische Flüchtlinge in Istanbuler Stadtbezirken: Die dunkle Farbe steht für hohe Dichte, die hellere für signifikante Dichte. Für andere Bezirke gibt es keine Angaben.
    Karte: Deniz Keskin, Quelle: Auveen Woods/IPC, Urban Refugees. The Experiences of Syrians in Istanbul

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    Syrische Flüchtlinge in Istanbuler Stadtbezirken: Die dunkle Farbe steht für hohe Dichte, die hellere für signifikante Dichte. Für andere Bezirke gibt es keine Angaben.

    Karte: Deniz Keskin, Quelle: Auveen Woods/IPC, Urban Refugees. The Experiences of Syrians in Istanbul

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    Der Backsteinbau des griechisch-orthodoxen Patriarchats thront über Fener-Balat
    Foto: Martina Priessner

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    Der Backsteinbau des griechisch-orthodoxen Patriarchats thront über Fener-Balat

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    Verfallenes osmanisches Holzhaus in Fener-Balat
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    Verfallenes osmanisches Holzhaus in Fener-Balat

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    Im Viertel Kumkapi leben seit Jahrzehnten Migrantengruppen aus Russland, Zentralasien und der Subsahara
    Foto: Martina Priessner

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    Im Viertel Kumkapi leben seit Jahrzehnten Migrantengruppen aus Russland, Zentralasien und der Subsahara

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    Bauarbeiten in Kumkapi
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    Bauarbeiten in Kumkapi

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    „Zimmer für ledigen Mann zu vermieten“, „Zimmer für Familie“ – in Kumkapi haben sich die Bewohner auf Neuankömmlinge eingestellt
    Foto: Martina Priessner

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    „Zimmer für ledigen Mann zu vermieten“, „Zimmer für Familie“ – in Kumkapi haben sich die Bewohner auf Neuankömmlinge eingestellt

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    Im ehemaligen Roma-Viertel Sulukule leben heute wohlhabendere Flüchtlinge.
    Foto: Martina Priessner

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    Im ehemaligen Roma-Viertel Sulukule leben heute wohlhabendere Flüchtlinge.

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    Nach der Vertreibung der Roma trotz massiver Proteste im Jahr 2009 baute die staaatliche Wohnungsbaubehörde TOKI eine Siedlung mit Reihenhäusern und Villen.

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    Nach der Vertreibung der Roma trotz massiver Proteste im Jahr 2009 baute die staaatliche Wohnungsbaubehörde TOKI eine Siedlung mit Reihenhäusern und Villen.

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    Nato-Stacheldraht trennt die umzäunte Siedlung ...
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    Nato-Stacheldraht trennt die umzäunte Siedlung ...

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    ... von der angrenzenden Armut
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    ... von der angrenzenden Armut

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    Stadtteil Sultanbeyli auf der asiatischen Seite. Dort gibt es die "syrische Straße" mit Läden der Einwanderer.
    Foto: Martina Priessner

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    Stadtteil Sultanbeyli auf der asiatischen Seite. Dort gibt es die "syrische Straße" mit Läden der Einwanderer.

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    Nachverdichtung in Sultanbeyli: gebaut wird Ge­schoss für Geschoss. Links die „syrische Straße“ mit Geschäften von Flüchtlingen
    Foto: Martina Priessner

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    Nachverdichtung in Sultanbeyli: gebaut wird Ge­schoss für Geschoss. Links die „syrische Straße“ mit Geschäften von Flüchtlingen

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    Grafik: Deniz Keskin, Quelle: Support to Life, Vulnerability Assessment of Syrian Refugees in Istanbul

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    Grafik: Deniz Keskin, Quelle: Support to Life, Vulnerability Assessment of Syrian Refugees in Istanbul

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Urban Refugees in Istanbul

Mehr als drei Millionen Flüchtlinge leben in der Türkei. Auf der Suche nach Perspektiven verlassen viele von ihnen die Flüchtlingslager an der Grenze zu Syrien und ziehen in die Städte der Osttürkei, aber auch nach Istanbul. Wie werden sie dort aufgenommen? Unsere Autorin betrachtet zwei Bezirke der 17-Millionen-Metropole: das Arbeiterviertel Fatih, in dem seit Jahrhunderten Minderheiten leben, und das rasant wachsende Neubauviertel Sultanbeyli.

Text: Priessner, Martina, Istanbul

Die Türkei ist aufgrund ihrer geografischen Lage seit jeher Ziel- und Transitland für Flüchtlinge aus dem Irak, dem Iran, aus Afghanistan, Somalia und anderen Ländern. Allerdings hat sich die Situation durch den seit mehr als sechs Jahren andauernden Krieg in Syrien drastisch verändert. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht davon aus, dass inzwischen über drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei leben, davon über 2,7 Millionen aus Syrien.
Die rechtliche Situation der Flüchtlinge in der Türkei ist von einer histo­rischen Besonderheit bestimmt: Die Türkei ist lediglich dazu verpflich­tet, Flüchtlinge aus Europa aufzunehmen. Diese „geografische Einschränkung“ ist ein Überbleibsel aus dem Jahr 1951, als die Genfer Flüchtlings­konvention verabschiedet wurde, die zunächst darauf beschränkt war, europäische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg zu schützen. Die meisten Staaten haben diese Einschränkung inzwischen aufgehoben, in der Türkei besteht sie aber bis heute. Diese Lücke im türkischen Asylrecht hat bisher der UNHCR mit seinem Resettlement-Programm geschlossen. Der UNHCR prüft, wer schutzbedürftig ist, wickelt dann das Asylverfahren ab und verteilt anschließend die Flüchtlinge auf die wenigen Plätze in Aufnahmeländern wie Kanada, Australien und USA.
Aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen durch den Krieg in Syrien musste die Türkei handeln und die verwirrende Gesetzeslage regeln. Im Jahr 2014 wurde das „Gesetz über die Ausländer und den internationalen Schutz“ verabschiedet, und mit der „Generaldirektion der Migrationsverwaltung“ (GDMM) erstmals eine Asylbehörde geschaffen. Aber auch die neue Gesetzgebung gewährt nicht-europäischen Flüchtlingen kein Recht auf Asyl, sondern erweitert lediglich den subsidiären Schutzstatus für all jene, die aus einer Zwangslange heraus in die Türkei kommen und nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können – also zum Großteil den syrischen Kriegsflüchtlingen, die damit auch einen Anspruch auf Gesundheitsversorgung und Grundschulbildung für Kinder haben. Für alle anderen hat sich die Situation weiter verschärft. Die 28 Mitgliedsstaaten der EU haben zwar 2014 erstmalig beschlossen, mit insgesamt 22.500 Resettlement-Plätzen für Flüchtlinge aus aller Welt an dem Programm teilzunehmen, diese aber kurzerhand im Rahmen des „EU-Türkei-Deals“ in Plätze für syrische Flüchtlinge umdeklariert. Für Iraker, Afghanen oder Menschen anderer Nationalitäten gibt es damit keinen legalen Weg von der Türkei nach Europa. Sie müssen mit Wartezeiten von sieben Jahren rechnen, ehe sie eine Chance auf einen der begehrten Resettlement-Plätze in anderen Aufnahmeländern haben.
Von den Lagern in die großen Städte
Insgesamt unterhält die Türkei 26 Flüchtlingslager an der Grenze zu Syrien. Der Staat hat den größten Teil der acht Milliarden US-Dollar, den er bislang für Flüchtlinge ausgegeben hat, in diese Lager investiert. Dennoch leben hier nur etwa 260.000 Flüchtlinge, also nicht einmal zehn Prozent. Die meisten Flüchtlinge ziehen in große Städte, obwohl das Leben dort auf allen Ebenen – Wohnen, Ernährung, Ausbildung, Gesundheitsversorgung – um ein Vielfaches schwieriger ist als im Lager. Das Leben im Lager mag einfacher und sicherer sein, aber eine Perspektive bietet es nicht. Für die Aussicht auf Wohnung, Ausbildung und Arbeit sind viele Flüchtlinge bereit, schier unbezwingbare Hürden in Kauf zu nehmen. Ein großes Problem für syrische Flüchtlinge, die in Städte weiterziehen, ist die Wahrnehmung ihrer Rechte. Denn der Anspruch auf Gesundheitsversorgung und Schulbesuch der Kinder ist auf den Ort der Registrierung beschränkt. Dass sie sich nach einem Umzug erneut registrieren müssen, wird ihnen häufig erst bewusst, wenn sie medizinische Hilfe benötigen oder die Kinder in der Schule anmelden wollen. Gerade in Istanbul empfinden viele den Registrierungsprozess als Herausforderung. Es fehlt an der notwendigen Infrastruktur wie etwa an Übersetzungen. Informationen sind schwierig zu finden oder widersprüchlich.
Kaum staatliche Hilfe, steigende Mietpreise
In Istanbul leben laut offizieller Statistik des Innenministeriums etwa 400.000 registrierte Flüchtlinge aus Syrien. Zählt man die Unregistrierten mit, beläuft sich die Zahl auf 500.000 bis 600.000. Die Probleme in der 17-Millionen-Metropole sind immens. Tausende Flüchtlinge leben in bitterer Armut und sind auf sich allein gestellt. Obwohl es kaum staatliche Hilfe für syrische Flüchtlinge gibt, sind viele türkische Staatsbürger der Meinung, dass die Regierung sich besser um syrische Flüchtlinge als um die eigenen Landsleute kümmere. Wie in vielen europäischen Ländern ist Rassismus eng mit der wirtschaftlichen Situation verknüpft und in der extrem angespannten politischen und ökonomischen Situation ist zu befürchten, dass auch die anti-syrische Stimmung weiter zu nimmt. Emo­tionalisierte Debatten oder populistische Mobilisierungen gegen die Unterbringung von Flüchtlingen sind dennoch nicht zu beobachten. Bei permanent steigenden Mieten wird aber die Wohnungssuche immer schwieriger. Aus Kostengründen leben die meisten Flüchtlinge in Stadtvierteln außerhalb des Zentrums, häufig im Erdgeschoss oder im Keller, weil die Mieten dort günstiger sind. Eine groß angelegte qualitative Studie der NGO Hayat­-ta Destek (Support to Live/STL) kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Wohnungen für Flüchtlinge in Istanbul zwar in ordentlichem Zustand, aber überbelegt sind. In einem Drittel der Wohnungen leben sieben Personen oder mehr. Zwar gibt es Trinkwasser, Elektrizität und Gas, jedoch gaben 36 Prozent der Befragten an, in ihrer Wohnung keine Heizung zu haben. Politische Vorgaben oder Handlungsanweisen für die städtische Verwaltung im Umgang mit den neuen Einwohnern gibt es in Istanbul nicht. Zwischen Polizei, Stadtverwaltung und Bezirksämtern besteht nur wenig Austausch. Auch Statistiken sind kaum vorhanden. Dabei wäre die Weitergabe der Zahlen, die die Polizei sammelt, an die Bezirksverwaltungen hilfreich, denn dort liegt die Zuständigkeit für Infrastrukturen wie Wohnen, Schulen und Müllentsorgung. Im Moment kocht jeder Stadtbezirk sein eigenes Süppchen. Je nach Bereitschaft und Ressourcen kümmert man sich mehr oder weniger um die Bedürfnisse der Flüchtlinge. Auch wenn man heute in fast allen Stadtteilen Istanbuls auf Flüchtlinge trifft, leben die meisten in eher konservativen Bezirken wie Fatih, Küçükçekmece, Bağ­cılar und Esenler auf der europäischen sowie Ümraniye und Sultanbeyli auf der asiatischen Seite der Stadt.
Zwei Bezirke möchte ich im Folgenden genauer betrachten. Der große, aus 57 Stadtvierteln bestehende, mehrheitlich von Arbeitern bewohnte Bezirk Fatih liegt auf der historischen Halbinsel im Zentrum Istanbuls. Neben 428.857 Einwohnern sind dort 23.800 Flüchtlinge registriert – das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 5,3 Prozent. In Fatih liegen das Stadtviertel Kumkapı, ein Zentrum transnationaler Migration, das ehemals jüdische Viertel Balat und das berühmte ehemalige Roma-Viertel Sulukule. Als einst wohlhabender Bezirk, der seit den 1960er Jahren wieder einen starken Zuzug verzeichnet, hat Fatih eine relativ gut ausgebaute Infrastruktur.
Einen Kontrast zu Fatih bildet der Bezirk Sultanbeyli auf der asiatischen Seite Istanbuls. Der erst in den letzten 30 Jahren mit enormer Geschwindigkeit gewachsene Bezirk wird häufig als positives Beispiel für den Umgang mit Flüchtlingen angeführt. Die Zusammenarbeit der Behörden scheint hier besser zu funktionieren als anderswo in Istanbul. Sowohl Fatih als auch Sultanbeyli werden von der islamischen Regierungspartei AKP regiert.
Kumkapı, Zentrum transnationaler Migration
Lässt man bei einem Besuch in Fatih die touristischen Attraktionen hinter sich und folgt der Straßenbahnlinie, die sich durch die historische Halb­insel zieht, gelangt man nach Kumkapı. Die Grenzen von Kumkapı sind fließend. Der historische Name, den die meisten benutzen, stimmt mit der offiziellen Einteilung der städtischen Bezirke längst nicht mehr überein. Hier, mit Blick auf das Marmarameer, wo Dutzende Frachtschiffe auf ihre Durchfahrt durch den Bosporus zum Schwarzen Meer warten, lebten bis Mitte der 1950er Jahre viele Griechen und Armenier. Kirchen und Schulen zeugen davon, auch wenn heute nur noch wenige in Gebrauch sind. Aufgrund der diskriminierenden staatlichen Politik und nationalistischer Bewegungen verließen die meisten von ihnen das Land. Gleichzeitig führten der Niedergang der türkischen Landwirtschaft sowie die zunehmende Indus­trialisierung in den 1960er Jahren zu einer enormen Landflucht. Zentral gelegene Viertel wie Balat oder Kumkapı wurden sukzessive zu den neuen Wohn- und Arbeitsorten der Binnenmigranten. In den letzten Jahren hat sich Kumkapı zum Wohnort für unterschiedliche internationale Migrantengruppen vor allem aus Russland, Zentralasien und subsaharischen Staa­-ten entwickelt. Geflüchtete aus Syrien sind hier vergleichsweise selten anzutreffen.
Die Soziologin Kristen Biehl beschreibt, wie sich die Wohnformen in den letzten 15 Jahren massiv verändert und an die Bedürfnisse der unterschiedlichen migrantischen Gruppen angepasst haben. Angesichts der stetig steigenden Nachfrage bieten Hausbesitzer und Mieter zunehmend einzelne Zimmer in ihren Wohnungen zur (Unter-)Miete an. Selbst Bretterbuden, Kellerverschläge oder Dachkammern werden vermietet. Weit verbreitet sind auch Wohngemeinschaften oder Zimmer, die von mehreren Personen bewohnt werden.
Viele Migranten in Kumkapı sind alleinstehend. Die Flüchtlinge aus Syrien machen sich hingegen überwiegend im Familienverbund auf den Weg. Vorurteile gegenüber Fremden und bestimmte kulturelle Vorstellungen über Familie erschweren es vor allem für Alleinstehende in vielen Bezirken Istanbuls, eine Wohnung oder ein Zimmer zu finden. In Kumkapı sind diese Barrieren weniger ausgeprägt, wie die überall im Viertel präsenten Zettel mit Wohnungsangeboten zeigen, auf denen „Zimmer für alleinstehenden Mann“, „Zimmer für Frau“ oder „Zimmer für Ausländer“ steht. Auch das Dienstleistungsangebot hat sich an die hohe Bevölkerungsdichte und die hohe Fluktuation bei Mietern in Kumkapı angepasst. Die Anzahl der Geschäfte, Supermärkte, Immobilienbüros und Second-Hand-Möbelläden ist hier viel höher als in anderen Wohnbezirken. Viele Migranten haben eigene Geschäfte und Unternehmen eröffnet. Ins Auge fallen sofort die Transportunternehmen und Call-Shops, dazwischen immer wieder „ethnische“ Restaurants und Friseure. Seit Januar 2016 erlaubt die Türkei Syrern, einer legalen Beschäftigung nachzugehen, wenn sie eine Arbeitsgenehmigung haben. Allerdings haben nur die wenigsten Unternehmen, die hier Arbeitsplätze für Migranten schaffen, eine offizielle Lizenz.
Weltkulturerbe und Armut in Fener-Balat
Eine andere Szenerie bietet sich in dem historischen Viertel Fener-Balat, das ebenfalls im Bezirk Fatih angesiedelt ist. Auch dort lassen sich Spu­ren der Griechen bis in die byzantinische Zeit zurückverfolgen, Ende des 19. Jahrhunderts war Balat überwiegend jüdisch besiedelt. Als in Folge der politischen Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts fast alle Griechen vertrieben worden waren und nach der Staatsgründung Israels auch viele Juden die Stadt verlassen hatten, erlebte das Viertel zunächst einen Niedergang. Kurden, Roma und Einwanderer aus der Schwarzmeer­region bezogen die leerstehenden Wohnungen. Mitte der 1980er Jahre erklärte die UNESCO das direkt am Goldenen Horn gelegene Fener-Balat zum Weltkulturerbe. Anfang 2003 wurde hier mit EU-Geldern die erste behutsame Stadterneuerung in der Türkei überhaupt durchgeführt. Fast 200 Häuser wurden saniert. Hauseigentümer, die an dem Projekt teilnahmen, mussten sich verpflichten, ihre Häuser mindestens fünf Jahre lang nicht zu verkaufen. Heute sind die Straßen wesentlich belebter als noch vor zehn Jahren, die kleinen Geschäfte haben wieder Kunden, und das Selbstbewusstsein und der Bezug vieler Bewohner zu ihrer Mahalle (Kiez) ist gewachsen. Gleichzeitig ist Fener-Balat wie so viele andere Viertel von massiven Abriss- und Neubauplanungen betroffen. Erst 2012 stoppte ein Gericht ein Projekt, das den Abriss der gesamten Uferbebauung in­klusive einiger kurz zuvor sanierter Häuser vorsah.
Verlässt man die Ufergegend, die inzwischen auch deutliche Zeichen von Gentrifizierung zeigt, und folgt den steilen Straßen in den höher ge­legenen Teil von Fener-Balat – vorbei an dem riesigen, das Viertel überragende Patriarchat, den Sitz des spirituellen Oberhauptes der orthodoxen Kirche –, dann bemerkt man, wie sich das Straßenbild verändert. Hier hat die İsmail Ağa Gemeinde ihren Sitz, eine der einflussreichsten Institutionen der sunnitischen Konfession in der Türkei. Viele syrische Flüchtlinge leben in zum Teil sehr ärmlichen Verhältnissen und werden von der Gemeinde unterstützt. Ein in Fatih geborener Bewohner erzählt: „Nachdem die Syrer kamen, wurden die Mieten teurer. Ich wollte eine Wohnung kaufen. Sie lag bei 130.000 Türkischen Lira vor drei Jahren, jetzt kostet sie 300.000. Das kann ich mir nicht leisten.“ Laut dem Immobilienportal Milliyet Emlak sind die Mieten von allen Istanbuler Bezirken in Fatih am stärksten gestiegen – 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 31 Prozent. Für eine Mietwohnung, die vor zwei Jahren noch 800 Türkische Lira monatlich kostete, zahlt man mancherorts jetzt 1000 bis 1200 Lira. Eine syrische Fa­milie in Istanbul besteht durchschnittlich aus fünf Personen und kann diese Kosten alleine kaum aufbringen. In der STL-Studie mit syrischen Flüchtlingen gaben rund 27 Prozent der Befragten an, sie könnten ihre Kinder nicht in die Schule schicken, weil sie ohne den Verdienst der Kinder nicht über die Runden kämen. Es wird davon ausgegangen, dass nur 25 Prozent von den 800.000 syrischen Flüchtlingskindern in der Türkei die Schule besuchen. Aber dieser Wert variiert stark nach Provinz und Bezirk, in Istanbul liegt er bei 14 Prozent. Ein 12-jähriger Junge, der mit seiner Familie seit fünf Monaten in Balat lebt und bereits in Syrien die letzten vier Jahre nicht mehr zur Schule gegangen ist, gibt zu, Angst zu haben, in der Schule gehänselt und diskriminiert zu werden.
Sulukule, vom Roma-Viertel zur bewachten Siedlung
Wirtschaftlich besser gestellte Syrer leben in Sulukule, der ehemals ältes­-ten Roma-Siedlung der Welt, die als Beispiel für eine hemmungslose Vertreibungspolitik schlechthin steht. 2009 wurden die Bewohner vertrieben und das Viertel trotz massiven Protests komplett abgerissen. Die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI errichtete eine Siedlung, bestehend aus 577 drei- bis viergeschossigen, mit Nato-Draht burgartig abgeschirmten Reihenhäusern, 60 Läden und etwa 250 Villen. Während die Roma in an­deren Teilen der Stadt auf der Straße oder in Baracken leben, hat sich die neue Siedlung Sulukule zu einem Wohnort für Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Libyen entwickelt. In der Siedlung und in unmittelbarer Nähe gibt es Schulen, im Gebäude der nahen Istanbul-Akademie, die vormittags als Sprachschule genutzt wird, werden am Nachmittag 360 Studierende nach syrischem Lehrplan unterrichtet. Zwei Maklerbüros sind vor Ort, die Miete für eine 2-Zimmer-Wohnung liegt bei stolzen 1750 Lira. Im Gegensatz zum Rest von Fatih ist hier keinerlei Familienleben auf den Straßen zu sehen. Alle zwanzig Meter sind Überwachungskameras angebracht und städtisches Sicherheitspersonal patrouilliert regelmäßig durch die fast menschenleeren Straßen. Autos verschwinden in einer der vielen Tiefgaragen. Verlässt man die Siedlung durch eines der Tore Richtung Osten, steht man wieder in einem bitterarmen Wohnviertel mit heruntergekommenen Hütten und Häusern.
Vorbild Sultanbeyli
Der vom Zentrum der asiatischen Seite Istanbuls gut eine Autostunde entfernte Bezirk Sultanbeyli zählt zu den jüngeren und aufstrebenden Bezirken Istanbuls, aber auch zu den umstrittensten, wurde er doch weitgehend illegal errichtet. Die Stadtsoziologen Oğuz Işık und Melih Pınarcıoğlu haben die Geschichte Sultanbeylis als eine „Plünderungsgeschichte“ beschreiben. Die Stadterweiterung ist ein Symbol „für den unersättlichen Wildwuchs, der die türkischen Städte seit 1980 zerstört und ihre Waldgebiete und Wasserreservoire aufgefressen hat“. Seit 1980 war der Bezirk vor allem Ziel von Einwanderern aus der Schwarzmeerregion, und hat sich zu einer eigenen Stadt innerhalb der Stadt entwickelt. Seit den 1990er Jahren kamen vornehmlich Kurden, die aus dem Südosten der Türkei vertrieben wurden. Heute hat Sultanbeyli über 320.000 Einwohner und zusätzlich 19.000 Flüchtlinge. Diejenigen, die zuerst kamen, besetzten sowohl staatlichen als auch privaten Grund, den sie anschließend weiter veräußerten. Dieser illegale Prozess der Landnahme wurde von der Regierung aktiv forciert. Aus dieser Gruppe ist auch die politische Führungsschicht von Sultanbeyli hervorgegangen. Sultanbeyli ist ein Beispiel für das Gecekondu-Prinzip, eine weit verbreitete Praxis der informellen Urbanisierung, die vor allem in der Zeit der Industrialisierung und Landflucht zwischen 1945 und 1985 auftrat. Inzwischen wurden auch in Sultanbeyli die meisten ohne staatliche Genehmigung gebauten Gecekondus in Apartments oder Wohnblocks umgewandelt. Aus der illegalen Landnahme in den 1980ern resultiert allerdings ein schwerwiegendes Problem, das in Sultanbeyli alle anderen Probleme zu überlagen scheint: die Grundbuch-Frage. Bei einer Wohnfläche von neun Millionen Quadratmetern Fläche ist knapp die Hälfte der Besitzverhältnisse nicht geklärt. Zum schnellen Wachstum des Bezirks trugen auch die Autobahnanbindung, der Flughafen Sabiha Gökçen sowie die dritte Bosporus-Brücke bei. Zudem besteht Aussicht, dass bald auch die U-Bahn bis Sultanbeyli fährt.
Sultanbeyli war von Anfang an ein Ort der Migration. Seit 2014 wird diesem Umstand mit einem mehrstöckigen Migrationszentrum auch offi­ziell Rechnung getragen. 19.000 syrische Flüchtlinge sind dort registriert. Die Leiterin der Behörde, Azime Bildik, geht von mindestens 2000 wei­te­ren Flüchtlingen aus. Als einer der wenigen Bezirke verfügt Sultanbeyli über Statistiken. Der Stadtteil wird immer wieder als positives Beispiel angeführt, wenn es um die Versorgung von Flüchtlingen geht. Der Bezirk hat ein eigenes Registrierungssystem eingeführt. Anhand eines umfassenden Fragebogens wird eine Bedarfsanalyse erstellt, von der Ausbildung der Kinder bis zur beruflichen Laufbahn der Eltern. Auf Grundlage dieser Analyse versucht man im Migrationszentrum Hilfe anzubieten. Bildik geht davon aus, dass 95 Prozent der Bevölkerung in Sultanbeyli über das Zentrum Bescheid wissen und es als Anlaufstelle für alle Probleme fungiert. Im Zentrum selbst arbeiten fast nur Syrer und Syrerinnen, darunter 13 Ärzte und etliche Lehrer. Während die Menschen hier, wie in den anderen Stadtteilen Istanbuls, auf dem freien Wohnungsmarkt zurechtkommen müssen, stellt der Bezirk Wohnungen für derzeit acht Frauen in besonders schweren Notlagen sowie für 17 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bereit. Azime Bildik, aber auch Mustafa Oral Sengül, ein in Sultanbeyli ansässiger Makler, beschreiben die Wohnungssituation als schwierig. Viele Hausbesitzer nutzten die starke Nachfrage aus: Für Wohnungen, die vor einem Jahr noch 400 Lira kosteten, werden inzwischen 900 Lira verlangt, obwohl die Bausubstanz in Sultanbeyli generell schlecht sei, wie Bildik erklärt.
Es gibt keinen legalen Weg nach Europa
Von 2011 bis 2016 hat die Türkei eine Politik der „offenen Tür“ betrieben und die Neuankommenden als „Gäste“ bezeichnet. Seit Frühjahr diesen Jahres sind die Wege von Syrien in die Türkei verschlossen. Die Ankunft neuer Flüchtlinge ist, zumindest im Moment, gestoppt. Nur langsam wächst in der Politik und der Gesellschaft das Bewusstsein, dass die Menschen über einen längeren Zeitraum und vielleicht sogar für immer in der Türkei bleiben werden. Damit rückt die Frage nach dem Zusammenleben immer mehr in den Blick. Die neuen Einwohner prägen und formen die Stadt längst mit. Stadtplaner und Architekten sind laut Yelta Köm, Mitbegründer des Netzwerks „Architekur für alle“, noch gar nicht in das Geschehen in­volviert. Tausende, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind, sitzen nun in der Türkei fest und können weder vor noch zurück – legale Wege nach Europa gibt es nicht. Gleichzeitig verschärft sich die politische Situation in der Türkei fast täglich und die Asylanträge von Türken und Kurden in Deutschland werden jeden Monat mehr – allein 3059 Asylsuchende aus der Türkei wurden von Januar bis September 2016 registriert.
Gegenwärtig gibt es wenig Anreize für die Bezirke und Verwaltungen in Istanbul, sich mit der Situation der Flüchtlinge zu beschäftigen, zudem ist durch die politisch angespannte Lage auch eine Zunahme von anti-syrischen Ressentiments zu befürchten. Es ist absehbar, dass in den kommenden Jahren noch viel mehr Flüchtlinge die gefährliche Reise über das Mittelmeer riskieren werden, solange sich ihre Lebensbedingungen in der Türkei nicht fundamental verändern und keine legalen Wege geschaffen werden.

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