Bauwelt

Wohnanlage


Im Ponti Rossi von Neapel


Text: Wilhelm, Hans-Christian, München


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    Luftbild: Stadt Neapel

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Eine in die Stadt eingefügte Wohnanlage des heute achtzigjährigen Aldo Loris Rossi lässt Wünsche und Träume von Großprojekten im Wohnungsbau der siebziger Jahre erkennen. Heute zeigt sich die Anlage zwar in einem schlechten baulichen Zustand, aber die Bewohner, die sich hier nach ihren Vorstellungen eingerichtet haben, sind zufrieden.
Meine Exkursion in die Welt einer der gebauten neapolitanischen Megastrukturen geht zurück auf einen Anflug auf die Stadt von Westen: Im bekannten Landschaftsbild aus Vesuv, Golf und Inseln taucht das Häusermeer der Metropole Neapel auf, in dem ich zuerst das riesige Rechteck der „Albergo dei Poveri“, des bourbonischen Armenpalastes ausmache und dann eine aus Ringen und zylindrischen Türmen zusammengesetzte Großform, die zwar deutliche Spuren der Zeit trägt, aber zugleich auch zeitlos oder aus der Zeit gefallen scheint. Die Rede ist von der 1989 fertiggestellten Wohnanlage „Ponti Rossi“, die ihren Namen einem hier verlaufenden römischen Aquädukt aus roten Ziegeln verdankt und die ihr Architekt Aldo Loris Rossi eine „Unità urbana a servizi integrati“ nennt, sinngemäß eine „Stadteinheit mit integrierten Dienstleistungen“. Diese Bezeichnung lässt nicht zufällig an Le Corbusiers Unité d’habitation denken; die Verwandtschaft zu den Megastrukturen der sechziger und siebziger Jahre ist deutlich zu erkennen. Als ich später Gelegenheit habe, zusammen mit Aldo Loris Rossi sein inzwischen fast eine Generation altes Werk zu besuchen, überlagern sich die Gegenwart der scheinbar anarchischen Metropole Neapel und die großen, vor zwei Generationen begonnenen Diskursen der Architektur des vergangenen Jahrhunderts.
Pizzofalcone
Zunächst aber suche ich Aldo Loris Rossi in seinem Büro am Pizzofalcone auf, einer steil vom Meer aufsteigenden Halbinsel, wo auf der einen Seite die dichten „Quartieri popolari“ liegen, auf der anderen Seite das bürgerliche Neapel des 19. Jahrhunderts sich ausbreitet. Er zeigt mir Modelle von Planungen für seine Heimatstadt und filigran gezeichnete Perspektiven organisch wuchernder Raumstrukturen. Sie führen die zwei Pole in Aldo Loris Rossis Werk vor Augen: Geprägt durch die Bilder und Strömungen des internationalen Metabolismus und in ideologischer Abgrenzung zum italienischen Nachkriegs-Rationalismus schließt sich Rossi der von Bruno Zevi ausgeru­fenen italienischen Bewegung der „Architettura Organica“ an und realisiert bis in die achtziger Jahre vor allem in Kampanien eine Reihe von sozialen Wohnbauten, die durch ihre additiven, runden Kompositionen eine große plastische Wirkung entfalten. Den anderen Pol bildet die Auseinandersetzung mit dem städtebaulichen Erbe Neapels; in aufwendigen, aus der Baugeschichte der Stadt abgeleiteten Entwurfsstudien überplant Rossi im Nachkriegsbauboom entstandene und durch Immobilienspekulation geprägte Wohnquartiere mit dem ihm eigenen organisch-metabolistischen Repertoire. Er nennt es „Lavoro in maniera dissociata“.
Weiterwachsen
Als mir der 1933 geborene Architekt und langjährige Lehrstuhlinhaber an der „Università degli Studi di Napoli Federico II“ seine Entwurfsgedanken zu „Ponti Rossi“ erläutert, stehen sogleich Fixpunkte im Koordinatensystem der Megastrukturen im Raum. Reyner Banham hat sie schon in seiner 1976 erschienen Studie „Megastructure – Urban futures of the recent past“ erwähnt: Da ist zum einen der Bezug zu Le Corbusiers 1931 entstandener, städtebaulicher Studie für Algier, die kurvig-lineare Großbauten mit (automobiler) Infrastruktur und gestapelten, „Infill“-Wohneinheiten kombinierte, von denen eine, im maurischen Stil skizzierte, zum Bezugspunkt für die in den Folgejahrzehnten sich verbreitenden nutzerbestimmten Ausbaukonzepte wurde; und da ist die von den japanischen Metabolisten formulierte Analogie von Großstrukturen zu Bäumen, deren zylindrische „Stämme“ das Rückgrat für Technik und Erschließung bilden, an die die „Blätter“ einzelner Wohneinheiten angehängt sind. Mit diesem Rüstzeug lässt sich nun erstaunlich nahtlos an die aktuell geführten Diskurse zum nachhaltigen, ökologischen Bauen, vor allem aber über die bauliche Mitwirkung und Veränderung durch die Bewohner anknüpfen. Auf welche geradezu buchstäbliche Weise diese Konzepte zum organischen „Weiterwachsen“ inzwischen im Wohnkomplex der „Ponti Rossi“ zum Tragen gekommen sind, werden Rossi und ich dann bei unserem Besuch erfahren. Schon zum Ende der Bauzeit kam es offenbar zu Meinungsverschiedenheiten und Veränderungen durch den Bauträger, sodass der Architekt entschied, die Anlage nach Fertigstellung nicht mehr zu besuchen.
Zunächst erläutert er aber in seinem Büro weiter seine Entwurfsgedanken: „Das Prinzip bei Ponti Rossi war, die sonst üblichen Außenräume der Wohnhäuser in einer einzigen Piazza im Zentrum zusammenzuführen und so alle Wohneinheiten organisch miteinander zu verbinden. Die Bewohner sollten nicht in Schachteln eingesperrt werden. Die Ladenstraße im Erdgeschoss wiederum verbindet die Anlage mit der umgebenden Bebauung. Von den außen „angedockten“ sozia­len Einrichtungen wurde seinerzeit nur der Kindergarten realisiert.“
Wir sprechen weiter über den Aspekt der Veränderbarkeit von Architektur und wie sie sich den Bedürfnissen der Bewohner anpassen kann: „Für mich wäre es ein Ideal, wenn es gelänge, eine vertikale Plattform mit Anschlüssen für die Haustechnik zu entwickeln. Dann könnten die Bauunternehmer dort ‚Parzellen‘ verkaufen, sodass jeder mit seinem Architekten sein individuelles Haus bauen würde und sich gewissermaßen ein geordnetes Chaos ergäbe. Ich bin der Meinung, man muss sich im Spannungsfeld von Ordnung, Zufall und Chaos bewegen. Auf diese Weise wird die Architektur auch ein kollektives Werk in der Zeit. Es schockiert mich nicht, wenn meine Unità d’abitazione verändert wird. Wenn man die Architektur als lebenden Organismus begreift, wird diese geboren, stetig verändert sich stetig und stirbt. Ich bin für Stilpluralismus bis zum Kitsch.“
Aber wie standen die Projektentwickler seinerzeit dieser Idee gegenüber? „Es waren Analphabeten“, sagt Rossi, „der Dialog hörte irgendwann auf. Schon kurz nach Fertigstellung des Projekts nahmen sie Änderungen vor, schnitten sogar nachträglich Öffnungen in tragende Teile.“
Der Ausflug
Auf dem Weg zu „Ponti Rossi“ sehen wir die zylindrischen Türme bereits bei der Fahrt über eine Brücke der Stadtautobahn schemenhaft aus dem Stadtgefüge auftauchen. Gelegen zwischen dem Schlosspark von Capodimonte und dem Flughafen Capodichino an der Nordspitze eines schon im
19. Jahrhundert bebauten Stadtviertels, an der Abbruchkante zu ei­ner höher gelegenen Ebene mit Baumbestand, tritt der ringförmige Wohnkomplex trotz seiner markanten Form zunächst weder im Stadtplan noch auf Luftbildern als Fremd­körper in Erscheinung. Trotz seiner radikalen Andersartigkeit ist er heute verwachsen mit seiner Umgebung, wo sich an den nördlichen Ausfallstraßen längst eine dichte Mischung aus älteren Palazzi, Wohnbauten der Nachkriegszeit und Industriehallen breit gemacht hat, die aberwitzig von der in Höhe des zehnten Geschosses verlaufenden Stadtautobahn überspannt wird.
Schon mit Beginn der Planungen 1979 ein „Nachgeborener“ seiner konzeptionellen Vorbilder, wurde der Wohnkomplex auf dem Gelände einer ehemaligen Jutefabrik errichtet, die das Projekt in Auftrag gab. Über einem Tiefgeschoss mit Parkplätzen erheben sich auf einem ringförmigen, durch ein exzentrisches Bogensegment zur Hangseite gebrochenen Grundriss sieben Geschosse mit insgesamt 219 Wohneinheiten; vom Zentrum, in dem sich ein Tennisplatz und ein Schwimmbad befinden, gelangen die Bewohner der „Villette“ genannten Maisonetten im ersten und zweiten Obergeschoss über Rampen in ihre „Häuser“. Die Erschließung der Wohnungen in den darüber liegenden Geschossen erfolgt über die außen radial angeordneten Türme, und zwar einerseits zum innen liegenden Ring, andererseits zu den in den Türmen selbst liegenden Wohnungen (ursprünglich eine je Geschoss). Auf dem oberen Rand des Hauptrings sind zahlreiche zylindrische oder scheibenförmige Volumen angeordnet, die Rossi treffend „Capricci“ nennt – und die er in vielen Skizzen bewusst platziert hatte.
Als wir das Innere des Rings betreten wollen, findet Rossi den ursprünglichen Zugang durch ein Tor verschlossen. Wir nehmen einen anderen Weg. Innen ist die Kraft der Großform weiter spürbar. Am augenfälligsten ist die Verwahrlosung der Gemeinschaftsanlagen: der Tennisplatz ein verlassener Käfig, das Schwimmbecken leer, die ursprünglich üppigen Gründächer im Zentrum weitgehend abgeräumt und kahl. Die auf alten Abbildungen erkennbare Farbgebung ist einer diffusen weiß-bunten Patina gewichen, an der viele Wohnungsbesitzer mitgearbeitet haben. Wenn ich das leere Schwimmbecken ignoriere, wirkt alles dennoch freundlich, eine belebte Struktur, eine gestrandete Raumstation, bewohnt von, je nach Perspektive, ignorant-destruktiven oder kreativ-schlauen Neapolitanern, die hier ihr eigenes „Eckchen“ und „Fleckchen“ verändert, aufgestockt, umgebaut und angebaut haben. Rossi, der sich während des Gesprächs selbst als überzeugter Anarchist bezeichnet hat, ist nun doch schockiert und schimpft über „mangelnde Zivilisation“ und den Egoismus der Bewohner – eine solche Veränderung hatte er nicht erwartet. „Die Aneignung durch Einzelne muss Halt machen vor den öffentlichen Einrichtungen. Auch das Chaos braucht Regeln. Die vielen Terrassen und Balkone sind zum Teil geschlossen und verglast, die Flachdächer mehr oder weniger sämtlich zum Baugrund für „Costruzioni abusivi“, also ungenehmigte Aufstockungen geworden; man erkennt viele neue „Capricci“-Aufbauten, darunter toskanisch anmutende Holzlauben, bunte Fliesenverkleidungen.
Wir betreten einen der Wohntürme und sehen, dass auf Treppenpodesten Trennwände und Türen eingezogen, also Geschosse zusammengelegt wurden. Einen durchgängigen Fluchtweg gibt es offenbar nicht mehr. Wir haben Gelegenheit, eine Bewohnerin zu besuchen, die hier, wie sie erzählt, eine glückliche Kindheit verbracht hat, nun aber über den mangelnden Bauunterhalt klagt. Es wird klar, dass die „organische“, nutzerorientierte Entwicklung auch gemeinschaft­liche Erhaltungsstrukturen und nicht zuletzt auch Grenzen braucht, soll der weitgehend in Sichtbeton ausgeführte Komplex nicht allmählich verfallen, wobei einem solchen baulichen Verfall mitunter auch der soziale Verfall folgt. Im Moment scheinen sich die Bewohner aber weiterhin sicher und wohl hier zu fühlen. Welchen Anteil daran die offene, überwiegend sichtbare bzw. in den Türmen als Einspänner organisierte Erschließungsstruktur hat und welchen die individuelle, mehr oder weniger bürgerlich geprägte Eigentümer- und Bewohnerstruktur sowie die weitere Umgebung und Lage, muss hier offenbleiben – an anderer Stelle in Neapel hat die „Malavita“, jenes Spektrum der Deliquenz von der Kleinkriminalität bis hin zum organisierten Verbrechen, von Wohnkomplexen und Megastrukturen der siebziger Jahre Besitz ergriffen und sie geradezu als ihre „Hochburgen“ etabliert.
Gegenwärtig erleben Großstrukturen eine gewisse Renaissance, Architekten wie etwa die Bjarke Ingels Group gewinnen Wettbewerbe und bauen in China und Europa Großwohnanlagen von ikonischer Bildhaftigkeit und Plakativität. Bei aller Ambivalenz solcher Projekte bleibt der Schlüssel für den langfristigen Erfolg dieser Strukturen die gelungene Integration der gemeinschaftlichen Nutzungen und die positive Einbindung und Interaktion mit dem urbanen Kontext – sofern er überhaupt vorhanden ist.



Fakten
Architekten Rossi, Aldo Loris, Neapel
Adresse Via Nicola Nicolini, 68, Napoli, Italien ‎


aus Bauwelt 5.2014
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