Bauwelt

Stoffwechsel in Lissabon



Text: Albani, Julia, Berlin; Hoetzel, Dagmar, Berlin


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    Daniel Malhão/DMF

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Wie ein Schauspielhaus aus dem 19. Jahrhundert rekonstruieren, ohne zu verschleiern, dass es 150 Jahre lang in Trümmern lag? Gonçalo Byrne, Patrícia Barbas und Diogo Seixas Lopes haben die Überreste des Lissabonner Thalia Theaters in einen Betonsarkophag eingegossen – und einen neuen Veranstaltungsort geschaffen, in dem Klassizismus, Brutalismus und Ruinencharme eine unvermutet harmonische Verbindung eingehen.
Lissabon, die Melancholische – seit Jahren ist das architektonische Erbe der portugiesischen Hauptstadt in bedrohlichem Zustand, als bröckelige, dekadente Kulisse prägt es das Stadtbild. Eine Folge der Krisen, die sich im Lande abwechseln.
Es mutet beinahe ironisch an, dass jetzt, wo nahezu alle städtischen Bauprojekte zum Erliegen gekommen sind, ausgerechnet das kleine Thalia Theater fertiggestellt wurde. Fast 150 Jahre lang war das Haus eine Ruine. Der Graf von Farrobo, ein zu Reichtum gelangter Industrieller, hatte es 1843 als Teil seiner Landpartie vor den Toren der Stadt nach einem Entwurf von Fortunato Lodi erbauen lassen. Nach nicht einmal 20 Jahren, in denen dort lustvolle Inszenierungen und berüchtigte Parties stattfanden, zerstörte ein verheerender Brand das Gebäude mit seiner klassizistischen Fassade und der prunkvollen Innendekoration bis auf die Grundmauern. Der Graf verarmte und starb nicht allzu lange darauf. Und während die Stadt um die Ruine herum zu wuchern begann, mahnten die Überbleibsel des Theaters: „Hic Mores Hominum Castigantur“ steht am Tympanon des Hauptportals. Zu Deutsch: Hier werden die Sitten der Menschen getadelt (Je nach Vorliebe des Übersetzers auch: gebessert; oder gar: gestraft).
Das portugiesische Ministerium für Bildung und Wissenschaften, das seinen Sitz im vis-à-vis gelegenen ehemaligen Schloss hat und damit auch Eigentümer des Theaters ist, beauftragte im Jahr 2008 die Architekten Gonçalo Byrne, Patrícia Barbas und Diogo Seixas Lopes, die Ruine zu sichern, das Haus zu rekonstruieren und in einen Veranstaltungsort für das Ministerium umzuwandeln. Für welche Art des Sitten-Tadels genau die neue Bühne mit Ende dieses Sommers nun frei ist, muss angesichts der instabilen Finanzsituation in Portugal allerdings bis auf weiteres offenbleiben.

Verlorene Schalung
Palast und Theater grenzen zur einen Seite an eine vielbefahrene Straße, die vom Zentrum der Stadt durch den mehrheitlich von Wohnungsbau und Kleingewerbe geprägten Norden in die Peripherie führt. Auf der anderen Seite ist das Ensemble vom ehemals stattlichen tropischen Garten des gräflichen Anwesens umgeben, heute Heimat des Lissabonner Zoos.
Der fragile Zustand der Ruine verlangte den umgehenden Schutz der verbliebenen Mauern. Ingenieur Rui Furtado, den die Architekten hinzuzogen, schlug vor, sie zu verpacken, um sie zu stärken. „Wir waren fasziniert von der Idee einer monolithischen Hülle“, so die Architekten, „und entschieden uns, diese Hülle Außen und nicht im Innern zu platzieren, da wir die Tektonik der alten Mauern in die wiedererstehenden Räume des Theaters einbringen wollten – als Interpretation des ‚Stoffwechsels‘ im Sinne Gottfried Sempers“.
Die Ruine diente als verlorene Schalung für die Betonhülle, die das gesamte ursprüngliche Volumen des Bühnenhauses und des 23 Meter hohen Zuschauerraums umschließt. In diesen beiden Räumen bilden die alten Mauern die Oberfläche der Innenwände, denen man ansieht, dass sie 150 Jahre lang Wind und Wetter ausgesetzt waren. Die Haustechnik ist im Fußboden verschwunden; Beleuchtung und Bühnentechnik lassen sich nach Bedarf an vier Stahlträgern befestigen, die auf gut halber Raumhöhe im Bühnenhaus eingezogen wurden.
Entstanden ist ein Ensemble aus Alt und Neu: Foyer, Auditorium und Bühne des alten Theaters haben die Architekten mit einem eingeschossigen, gläsernen Flügel ergänzt, der das Theater umgreift und den dahinterliegenden Hof umschließt. Zugunsten dieses Anbaus, in dem ein Café, der Empfang, die Garderobe, Toiletten und Lagerräume untergebracht sind, musste ein dreigeschossiges Haus weichen, das vor dem Theater an der Straße stand. Auf diese Weise ist das Thalia mit seinem eindrucksvollen Volumen optisch in die erste Reihe gerückt; der von dem gläsernen Anbau gebildete Hof schafft einen großzügigen Übergang zwischen altem und neuem Gefüge und eröffnet eine neue fußläufige Verbindung von der Straße zum Zoologischen Garten.
Um einen Bezug zum rötlichen Ton der alten Mauern und zur Farbpalette der benachbarten Häuserfassaden aus den 1950er Jahren herzustellen, ließen die Architekten dem Beton  pulverisiertes Terracotta als Pigment beimischen. Rahmen und Stützen des Anbaus sind aus rostfreiem Stahl; die reflektierende Verglasung – je nach Betrachterposition transparent oder opak – holt die Passanten und die Szenerie des Zoos quasi in das Café und den Innenhof hinein.
Man kann das Thalia Theater in der Tat als Anstoß zu etwas Neuem sehen – ein „Stoffwechsel“ in der portugiesischen Architektenszene. Zum einen, weil zwei Generationen von Architekten verantwortlich zeichnen: Der 71-jährige Gonçalo Byrne hat Patrícia Barbas (41) und Diogo Seixas Lopes (40) eingeladen, an dem Projekt mitzuarbeiten; Byrne versteht sich als Förderer der jungen Generation, und seine undogmatische Haltung ließ es zu, dass vorwiegend die beiden Jüngeren die Führung übernahmen. Zum anderen, weil das neue Thalia wie aus dem Nichts daherkommt, fast brutal in der formalen Geste, intelligent im Kontext platziert und behutsam mit dem Vorgefundenen verschmolzen; manches erinnert an Scarpas Intervention im Castelvecchio in Verona oder an Souto de Mouras Eingriff im Kloster Santa Maria do Bouro – in der Weise wie mit der zeitlichen Dimension umgegangen wird: Wenn Zeit ein großartiger Zerstörer ist, dann ist Architektur das Mittel, sie zu messen.  



Fakten
Architekten Gonçalo Byrne, Patrícia Barbas, Diogo Seixas Lopes, Lissabon
aus Bauwelt 38.2012
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