Bauwelt

Produktive Stadt Rotterdam


Auch die alte Industriestadt Rotterdam muss sich mit dem Wandel der Produktion auseinandersetzen, will sie im postfossilen Zeitalter mithalten. Die Autoren haben Szenarien erarbeitet, wie die Stadt und mit ihr die ganze Region von der Next Economy profitieren könnten. Lokale Wirtschaftskreisläufe und das Einbeziehen der Stadtbewohner als Konsumenten und Produzenten sind die Stichworte. Um diese Prozesse sichtbar zu machen, brauche es Netzwerke – und neue architektonische Ikonen


Text: Broekman, Marco, Rotterdam; Klouche, Djamel, Rotterdam; Zandbelt, Daan, Rotterdam


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    Das GroLiWo-Konzept sieht neue Quartiere im Rotterdamer Industriehafen entlang der Maas vor, ...
    Abb.: L‘AUC

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    Das GroLiWo-Konzept sieht neue Quartiere im Rotterdamer Industriehafen entlang der Maas vor, ...

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    ... in denen Arbeiten und Wohnen verzahnt sind.
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    Fast so groß wie die Altstadt: die Baukörper des Crystal Palace, angeordnet in der südholländischen Gemeinde Schiedam
    Abb.: L‘AUC

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    Fast so groß wie die Altstadt: die Baukörper des Crystal Palace, angeordnet in der südholländischen Gemeinde Schiedam

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    Ein Netz aus kleinteiligen Funktionen, die in der Metropolregion Rotterdam-Den Haag ...
    Abb.: L‘AUC

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    Ein Netz aus kleinteiligen Funktionen, die in der Metropolregion Rotterdam-Den Haag ...

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    ... an verschiedenen Orten verteilt werden.
    Abb.: L‘AUC

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    ... an verschiedenen Orten verteilt werden.

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Produktion so lautet immer häufiger die Antwort auf die Frage, wie die Arbeit in die Stadt zurückgeholt werden kann. Dabei geht es nicht um die klassische industrielle Produktion, sondern um eine neue Art des Wirtschaftens: kreislauforientiert, sozial inklusiv und mit lokaler Wertschöpfung. Die Next Economy wäre auch für die alte Industriestadt Rotterdam eine Chance: Die Industrie ist dort immer noch eine wichtige wirtschaftliche Säule, doch wenn keine Innovationen stattfinden, ist auch diese Säule einsturzgefährdet. Zudem steht die Stadt vor großen Herausforderungen, sie kämpft mit sozialen Problemen und Arbeitslosigkeit. Die Pionierinitiativen der Next Economy könnten neue Perspektiven bieten, im lokalen wie im regionalen Maßstab. Wie kann Rotterdam von dieser Entwicklung profitieren und auch in Zukunft eine produktive Stadt bleiben?

Die Macht der Produktion

Das Produzieren wird Schritt für Schritt wiederentdeckt. Neue Technologien und die Globalisierung haben Herstellungsketten und Produktionsprozesse verändert. Die Smart Industry erlaubt maßgeschneiderte Produkte on demand, ihre Kunden wollen schnell bedient werden. Wo immer es möglich ist, werden Produkte nicht mehr verkauft, sondern verliehen und am Ende ihres Lebenszyklus zurückgenommen; wertvolle Stoffe können dann wiederverwendet werden. An diesem Markt teilzuhaben, verlangt allerdings nach einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Produkte und Dienstleistungen: billiger, länger haltbar, besser angepasst an Kundenbedürfnisse und gesellschaftliche Trends. Innovationen müssen immer schneller implementiert werden. Von Vorteil sind dabei eine enge Vernetzung mit dem Markt und der Zugriff auf gut ausgebildete Arbeitskräfte. Die Arbeitsplätze, die auf diese Weise geschaffen werden, bieten eine differenzierte Spannbreite anspruchsvoller und gut bezahlter Arbeit. Ge­rade in der heutigen Zeit, wo die Verlagerung von Betrieben in Billiglohnländer zunehmend weniger profitabel wird, müssen Städte und Regionen darüber nachdenken, wie sie diese Art der Produktion hierzulande fördern können.
Hinzu kommt, dass der technologische Fortschritt eine Demokratisierung von Produktionskapital bewirkt. Heute braucht es nicht viel mehr als eine geringe Investitionssumme, um aus einem Entrepreneur einen Produzenten zu machen. Darüber hinaus macht der immer leichtere Zugang zu Produktionsmitteln wie dem 3D-Drucker in fab labs das Herstellen für jedermann möglich und verwischt so die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten. Netzwerke kreativer Hersteller (maker movements), die auf der Basis von Open-Source-Informationen und -Technologien arbeiten, nähren den Hunger nach Innovationen. Sie beschleunigen die Mobilisierung von Konsumenten und (Ko-)Produzenten und befördern Neuerungen, die bestehende Systeme aufbrechen (Stichwort: disruptive Technologien).
Wie teuer ist eigentlich „billig“?
Die in das städtische Leben integrierte Produktion steht dabei hoch im Kurs. Dank moderner Produktionstechniken sind Sicherheit und Umwelt­belastung keine Argumente mehr, um die Industrie an die Ränder der Städte zu drängen. Die Autowerkstatt an der Ecke ist nicht nur praktisch, sie trägt auch zur Lebendigkeit der Straße bei. Die allseits wachsende Wertschätzung für handgemachte und lokale Produkte erfährt mehr und mehr öffentliche Unterstützung. Man will wissen, woher die Sachen kommen, und isst lieber teure Nahrungsmittel als industriell produzierte Masthähnchen oder genetisch verändertes Gemüse. Dubiose Arbeitsbedingungen in fernen Ländern lassen viele fragen, wie teuer eigentlich „billig“ ist. Die Industrie, die einst aus der Stadt auszog (zuerst als größter Umweltverschmutzer an den Stadtrand, auf Restflächen und ins Umland, später bis in die entferntesten Länder), kann sich heute wieder mitten in der Stadt sehen lassen.
Produktive Stadt Rotterdam
In Rotterdam werden diese Entwicklungen schon heute an verschiedenen, über die Stadt verteilten Orten sichtbar – und mit ihnen auch die Verwerfungen, die dabei auftreten. So macht der Rotterdamer Hafen einerseits wegen seines vollautomatisierten und emissionsfreien Containerterminals international Schlagzeilen, andererseits streiken die Hafenarbeiter, die genau deswegen um ihre Arbeitsplätze fürchten. In der Innenstadt entwickeln neue Akteure das lange leerstehende Badeparadies Tropicana zur BlueCity010, einem Laboratorium für kreislauforientiertes Unternehmertum. Und mitten im Gebiet des Rotterdamer Stadthafens, auf früheren Industriegrundstücken, treffen auf dem RDM Campus Lehre und Forschung zusammen. Eine „neue Industrie“ für Hafen und Stadt entsteht.
Stadt und Region Rotterdam bieten dabei ein großes Potenzial für das moderne herstellende Gewerbe. Rotterdam ist gut aufgestellt: durch seine Geschichte als industrialisierte Region, durch seine hochentwickelten Wirtschaftszweige wie Gartenbau, Schifffahrts- und petrochemische Industrie und durch die überragende Rolle des Seehafens für die globale und europäische Logistik der Güter- und Warenströme. Die stärksten Wirtschaftszweige sind aber gerade diejenigen, die wegen des Endes des fossilen Energiezeitalters den höchsten Erneuerungsbedarf haben. Trotz der enormen Summen an Kapital, die in diesen Sektoren stecken, tun sie der Stadt nur wenig Gutes. Rotterdam könnte einen wesentlich größeren Nutzen aus den Stoffströmen ziehen, die zum Hafen und aus dem Hafen durch die Stadt fließen. Das war zumindest das Forschungsergebnis eines früheren IABR-Ateliers Rotterdam (Urban Meta­bolism).
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Investitionen aber immer noch nach der internationalen Wirtschaftsagenda gerichtet. Die Frage, was diese Investitionen für die Stadt und ihre Einwohner gebracht haben, wurde weniger laut gestellt. Diese Frage aber ist umso dringender, da die Region soziale Fragen zu bewältigen hat: zu viele Schulabbrecher, zu viele arbeitslose Jugendliche. Ein relativ großer Teil der Stadtbevölkerung gerade in den südlichen Stadtteilen Rotterdams ist sozial benachteiligt und wurde von der wirtschaftlichen Entwicklung links liegen gelassen. Lebensqualität ist eine Herausforderung in Rotterdam, ebenso die Stärkung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Resilienz.

Ein regionales Ökosystem des Produzierens

Die Politik der vergangenen Jahrzehnte hat viele produktive Aktivitäten aus der Stadt getrieben. Das Erfinden und Produzieren findet getrennt und weit voneinander entfernt statt. Die Next Economy verlangt dagegen nach neuen Orten gemeinsamer Produktion und nach intelligenten Verbindungen. Gesucht wird ein Milieu, in dem Große und Kleine, Produktion und Konsumtion, Lernen und Ausprobieren, Herstellen und Entwickeln räumlich vernietet sind. Dazu bedarf es einer regulierenden Hand auf regionaler Ebene, einen öffentlichen Akteur, der ein Ökosystem ausarbeitet, das die räumliche Interaktion zwischen den Tätigkeiten und Akteuren fördert und unterstützt.
Die Metropolregion Rotterdam-Den Haag hat eine ganze Reihe industrieller Milieus zu bieten, mit unterschiedlichen Ausprägungen in der Morphologie, der Erreichbarkeit, der Funktionsmischung und der jeweiligen Position innerhalb der Wertschöpfungskette. Jeder Standort verfügt dabei über eigene räumliche Qualitäten (Infrastruktur, Architektur, Lage, soziale Dynamik) und kann potenziell für diese kommenden Industrien genutzt werden – auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer so erscheinen mag. Im Moment gleicht die Region eher einem Patchwork an Produktionsmilieus. Es mangelt an einer Verbindung untereinander und auch an der Vernetzung innerhalb dieser Milieus.
Diese Verbindungen zu organisieren und die Interaktion auf regionaler Ebene zu fördern, wird zunehmend wichtig. An einem leistungsstarken regionalen Ökosystem des herstellendes Gewerbes zu arbeiten heißt also, an Interaktionen zu arbeiten und an einem Netzwerk der Standorte, an denen gemeinschaftliche Nutzung (Sharing) erwünscht ist. Und es heißt auch, diese lokalen Netzwerke mit anderen Netzwerken zu verknüpfen, national wie international. Die unternehmerfreundliche Kultur Rotterdams, die lokale Kreativwirtschaft und eine große Bandbreite an Forschungs- und Bildungseinrichtungen – von High-Tech-Wissenschaften über Business Schools und spezialisierten Ausbildungseinrichtungen für gesuchte Berufe – sind vielversprechende Zutaten für ein lebensfähiges Ökosystem.

Entwicklungsperspektiven

Zur Stärkung und Weiterentwicklung eines Ökosystems der Produktion hat das IABR-Atelier Rotterdam eine Reihe von Perspektiven formuliert; nicht so sehr im Sinne einer umfassenden Strategie, eher als prototypische Interventionen:
Öffentlichkeit schaffen
Um die Manufacturing Economy attraktiv zu machen und für unterschiedliche Player Zugänge zu schaffen, ist es wichtig, dass sie sich aus dem Einerlei des öffentlichen Raums heraushebt. Dazu bedarf es eines Fokus der Aufmerksamkeit, so etwas wie einen „Kristallpalast des Produzierens“, einen öffentlichen Showroom der produktiven Stadt. An diesem Ort sollen sich die Ambitionen der Industrieregion zur Schau stellen, dort findet der Diskurs statt und wirkt in die Öffentlichkeit. Dieser Standort hält Flächen, Einrichtungen und eine Netzwerk-Infrastruktur bereit, so dass Institutionen auf Start-Ups und den individuellen Erfinder treffen können.
Lernende Stadt
Innovation und Bildung sind der Treibstoff für die Zukunftswirtschaft. Innovation braucht Orte, an denen Bildungseinrichtungen, Forschungsinstitute und Unternehmen zusammenkommen, wie etwa auf einem Open Innovation Campus. Sie befördern Ideen und Entwicklungen, am besten in einer größeren Gruppe von Gleichgesinnten und an einem leicht zugänglichen Standort. Die Metropolregion Rotterdam-Den Haag hält hierfür Mittel bereit, aber sie werden noch nicht gänzlich ausgeschöpft. Eine lernende Stadt bietet ein regionsweites Netz an zugänglichen, kleinformatigen und verstreut liegenden Einrichtungen wie fab labs, maker spaces und hybride Konstruktionen für die theoretische und praktische Ausbildung. Zugleich lenkt sie die Aufmerksamkeit auf Orte, wo Neues passiert.
Ein neuer Blick auf alte Hauptstraßen
Historisch ist ein Netz an Straßen und Kanälen vorhanden, das die industriellen Milieus in der Region verbindet. Entlang der großen Achsen dieses Netzwerks, den High Streets, hat sich ein bandartiges Siedlungsmuster von Nutzungsmischungen entwickelt. Neue Schichten der Verkehrsinfrastruktur, Schienenverkehrsnetze, Schnellstraßen und Autobahnen haben sich darüber gelegt, haben den Gebrauch und die Bedeutung dieser High Streets verändert. Mit einer neuen Wertschätzung ihrer (räumlichen) Qualitäten entstehen Möglichkeiten, die verschiedenen Milieus zu vernetzen und das produzierende Gewerbe in regionalem Maßstab zu stärken.
Die Neupositionierung der Quartiere der Arbeit
Industriegebiete und Geschäftsviertel werden oft als monofunktional angesehen, in Wirklichkeit gibt es an diesen Standorten aber ganz unterschiedliche Aktivitäten, es existiert bereits eine Mischung von Produktion, Dienstleistung und Logistik. Diese Quartiere liegen oft an den Rändern der Städte und Gemeinden, gleich neben der Autobahn, sind aber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, auch aus der Innenstadt heraus, nur schwer zu erreichen. Betrachtet man sie aus der regionalen Perspektive, liegen diese Flächen zentral und strategisch günstig, ganz in der Nähe der großen Fabriken, der Wissenschaftsparks und Hochschulen, und könnten so als Zentren einer regional produzierenden Wirtschaft neue Bedeutung erlangen.
Growing Living Working
Die Grenzen zwischen Arbeit und Wohnen sind fließend, und entsprechend wächst das Verlangen nach einem Umfeld, das alle Bereiche des Lebens räumlich enger verbindet. Die Next Economy erfordert Nähe und kurze Wege, auch auf der Ebene der Nachbarschaft. Das GroLiWo-Konzept (GrowingLivingWorking) bezeichnet eine architektonische Typologie, die diese gewollte Nähe im Quartiersmaßstab betrachtet und die gerade bei der Hybridisierung der alten Industriequartiere entlang der Maas eingesetzt werden kann.
Produktive Dienstleistungsstationen
Privatpersonen wie Unternehmen brauchen immer mehr On-Demand-Funktionen, um in der Lage zu bleiben, die hochindividuellen On-Time-Produkte und Dienstleistungen zu liefern. Dieser sich herausbildende Habitus erodiert bereits die Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie, da die Dienste überall und an jedem Ort nachgefragt werden. Productive Service Stations (PSS) könnten eine große Bandbreite an Dienstleistungen innerhalb der Metropolregion Rotterdam-Den Haag abdecken. Diese PSS wären erst einmal vom Grund her alle identisch, aber doch angepasst an die speziellen Bedürfnisse der jeweiligen Teilräume mit Ladestationen für Elektroautos, Bike-Sharing-Knotenpunkten, Lebensmittelläden und Lagermöglichkeiten für Bestellungen aus dem Internet, verfügen aber auch über einen Shared Space mit einer Grundausstattung an Werkzeugen und Maschinen für die Herstellung, Instandsetzung und Instandhaltung. Gleichmäßig über die Region verteilt, bilden sie ein Identitätsmerkmal der Metropolregion Rotterdam-Den Haag mit einem egalitären Zugang für alle.
Kreislauflandschaft
Die Next Economy ist eine Kreislaufwirtschaft. Die lokalen Landschaften werden dabei noch wertvoller werden – als erneuerbare Ressourcen für Materialien, Produkte und Energie. Das Konzept der Kreislauflandschaft verbindet Einzellandschaften zu einem maßstäblich größeren resilienten und zirkulären System, in dem Abfall- und Energiekreisläufe zusammengeschlossen sind. Die sich ergänzenden Landschaften der Region bieten die Gelegenheit, Produktions- und Konsumtionskreisläufe zu optimieren und miteinander zu verbinden. Die Nordsee, der Hafen Rotterdam und die Region Westland wie auch der ländliche Raum um Midden-Delfland und die Polder im Südwesten von Rotterdam haben das Potenzial für Kreislauflandschaften, die lokale, nationale und internationale Ströme verbinden.
Übersetzung aus dem Englischen von Michael Goj




Adresse Rotterdam


aus Bauwelt 35.2016
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