Bauwelt

Das städtische Wohnzimmer



Text: Kleilein, Doris, Berlin


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    Marc De Blieck

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Die Stadthalle in Gent von Robbrecht en Daem & Marie-José Van Hee setzt Maßstäbe für das Bauen in der historischen Altstadt. Ein gewaltiges Doppeldach auf vier schweren Füßen, so steht sie als Einladung an die Zivilgesellschaft zwischen den gotischen Monumenten weltlicher und kirchlicher Macht.
In Frankfurt am Main wird die Altstadt wieder aufgebaut, in Berlin das Stadtschloss. Im flämischen Gent, im Schatten des als Weltkulturerbe gelisteten Belfried, zeigt ein Neubau, dass es auch anders geht: Die Stadthalle strotzt vor Selbstbewusstsein, sie ist eine Demonstration des Vertrauens – in die Mittel zeitgenössischer Architektur und in die Vorstellungskraft der Genter, diesen offenen Ort zu bespielen. Man muss sich die Augen reiben: Mit welcher Selbstverständlichkeit die öffentlichen Räume im Herzen der Altstadt neu strukturiert wurden und die Architekten ein kraftvolles, und dennoch fein austariertes Gebäude zwischen die Monumente der Scheldegotik und der Renaissance gesetzt haben. Bereits wenige Monate nach Fertigstellung wirkt der Neubau, als stünde er schon immer dort.
Eine 16 Jahre alte Planungsgeschichte
Soweit die Außensicht. Auch in Belgien war der Weg zu diesem Ergebnis mühsam und begleitet von vielen Kontroversen. Seit 16 Jahren beschäftigen sich die Architekten mit diesem Projekt, bereits die dritte sozialistische Stadtregierung redet mit, und zuletzt auch die Grüne Partei, die die Autos aus der Altstadt haben will – ein Umstand, der den Architekten in die Hände spielte. 1996 lobte die Stadt Gent einen Wettbewerb aus, um die prominenteste Brache der Altstadt neu zu gestalten: Der Emile Braunplein war damals nicht mehr als ein Parkplatz, gelegen zwischen den touristischen Hotspots St. Niklaaskerk und Belfried, und sollte ersetzt werden durch ein Parkdeck mit Grün auf dem Dach. Die Architekten fanden das dem Ort nicht gerade angemessen. Sie verzichteten auf die Autos und schlugen einen leicht zu einem Café abfallenden Pocketpark („The Green“) und darüber einen steinernen Platz vor, auf dem ein Neubau thronte: die „Stadshal“. Der Entwurf wurde disqualifiziert, aber mit ihm auch das Vorhaben der Stadtregierung, ein Parkhaus zu bauen: Nach Protesten kam es zu einer Volksbefragung, und die Mehrheit sprach sich dagegen aus. Dann passierte lange nichts, bis 2005 ein neuer Wettbewerb ausgelobt wurde, den die Architekten schließlich mit dem gleichen, weiter ausgearbeiteten Entwurf gewonnen haben.
Vielleicht steht der Neubau heute auch deswegen so selbstverständlich da: Es gab viel Zeit, den Entwurf zu überdenken. Dabei ging es zunächst nur am Rand um das Gebäude – dieses wurde, so die Architekten, im Lauf der Diskussionen von vielen Beteiligten immer wieder gerne aus dem Modell genommen –, sondern um die Abfolge von Plätzen um den Emile Braunplein und um die Erneuerung der Infrastruktur. Der öffentliche Raum zwischen den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt war bei Planungsbeginn ausgefranst und chaotisch, das unwirtliche Ergebnis zweier Abrisswellen: Im Zuge der Planung für die Genter Weltausstellung 1913 wurden die mittelalterlichen Wohnblöcke und sämtliche Anbauten um die drei gothischen Monumente entfernt: Wie auf einem Tablett sollten sie stehen, befreit und sichtbar. In den 60er Jahren wich dann auch der letzte verbliebene Wohnblock vor dem Rathaus. Er sollte einem Neubau der Stadtverwaltung Platz machen, der aber nie gebaut wurde. Für Jahrzehnte wurde der Raum vernachlässigt; unübersichtlich verlaufende Straßenbahnschienen taten ihr Übriges.
25 Millionen Euro hat die Stadt in das Infrastrukturprojekt „Kobra“ investiert, zu dem auch die Stadthalle gehört, die Hälfte davon sind EU-Gelder. Die Architekten übernahmen nach dem zweiten Wettbewerb die künstlerische Oberleitung. Gemeinsam mit einem Team von Ingenieuren haben sie gründlich aufgeräumt: den benachbarten Korenmarkt von Straßenbahnschienen befreit, neue Haltestellen entworfen, Fahrradparkplätze und öffentliche Toiletten unter der St.-Michaels-Brücke und dem Emile Braunplein angelegt. Die neue Pflasterung erstreckt sich über 24.000 Quadratmeter und fasst die Plätze um die Stadthalle bis in die Seitenstraßen hinein wie ein großer Teppich zusammen. Die Pflasterung, die langen Holzbänke, das schwere dunkelgrüne Geländer, das den kleinen Park mit seinen Treppenanlagen flankiert – all das wirkt erst auf den zweiten Blick neu, so dezent fügt es sich mit soliden Materialien und einer gedeckten Farbigkeit ein.
Zwei Giebel und ein schiefer Schornstein
Die Stadthalle selbst sei „eine Übung in Renaissance“ gewesen, so Paul Robbrecht im Interview (Seite 19). Das hölzerne Dach überspannt eine Grundfläche von 40 mal 15,75 Metern und steht auf vier massiven Betonfüßen. Der Doppelgiebel ahmt das benachbarte Rathaus nach und bleibt doch weit unter dessen Firsthöhe. Je nachdem, ob man aus einer der schmalen Gassen kommt oder das Ensemble mit der Straßenbahn auf der Cataloniëstraat umrundet, hat man es mit einem anderen Volumen zu tun: massiv, abstrakt und schwebend die Breitseiten, spitzgiebelig und humorvoll die Schmalseiten mit ihren stahlverkleideten Kaminen, die das Dach schräg durchstoßen wie bei einem dieser verbauten belgischen Wohnhäuser. Die Architekten haben das Volumen immer wieder leicht verdreht, gestaucht und abgeschrägt, unter verschiedenen Blickwinkeln optimiert. Das Resultat ist maßstablos und schwer zu fassen. Das Dach aus Glasschindeln, die das Holz schützen, trägt zu der changierenden Wirkung bei: Je nach Lichteinfall erscheint es fahl, hölzern, glänzend, grünlich schimmernd. Steigt man die Treppe hinunter zum Café, steht man unter einer robusten Lamellendecke aus Sichtbeton, die den Platz trägt. Dieser Schnitt durchs Gelände nimmt der Anlage die Schwere: oben Mittelalter, unten Gegenwart. Das „Belfort Stadscafé“ öffnet sich nach Süden zum ansteigenden Grün und flankiert einen unerwartet modernen, leicht geschwungenen Raum inmitten der Altstadt.
Eine Bühne für Einwohner und Touristen
Die Stadthalle hat kein festgelegtes Programm – und genau das ist ihre Stärke. Sie ist ein Angebot, ein undefinierter, aber geschützter Raum. Es gibt Vorrichtungen für die Befestigung von Bühnentechnik, es gibt Licht, es gibt die Möglichkeit, Feuer zu machen; im Untergeschoss kann man essen, trinken, sich umziehen und Fahrräder ausleihen. Das Heimelige der Holzverkleidung wird gebrochen durch die schiere Größe des Daches und die Betonfüße. Hier wird nicht krampfhaft nach einer historischen Identität gesucht, wie man es in Frankfurt am Main bei dem Wettbewerb zum „Stadthaus am Markt“ (Bauwelt 5. 2010) beobachten konnte. Die Architekten betreiben Stadtreparatur im großen Stil – aber sie gehen vor den Altstadtfreunden nicht in die Knie, sondern formulieren eigenständige Anknüpfungspunkte an die Tradition und versehen das Ganze mit praktischen Funktionen. Dass dabei rund um die Halle wieder intime Plätze entstehen und zugleich die Weite spürbar bleibt, ist, man kann es ruhig sagen, ganz großes Theater. 



Fakten
Architekten Robbrecht en Daem architecten, Gent; Marie-José Van Hee architecten, Gent
Adresse Botermarkt, 9000 Gent, Belgien ‎


aus Bauwelt 22.2013
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