Bauwelt

Baukastenprinzip


Um den Bedarf an Betreuungsplätzen zu bedienen, hatte München eine bestechende Idee: Kitas in Systembauweise so maßzuschneidern, dass sich der Widerspruch zwischen Standardisierung und Individualisierung aufheben lässt. Ein Pilotprojekt wurde von schulz & schulz architekten umgesetzt, mit achtbarem Ergebnis. Weil die Ausführung des Kindergarten-Baukastens weiter verschlankt werden soll, steht der Erfolg jetzt in Frage


Text: Wilhelm, Hans-Christian, München


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    Für die Kita in der Hans-Golz-Straße mussten die Architekten die Rankfassade verschlanken
    Fotos: Stefan Müller

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    Für die Kita in der Hans-Golz-Straße mussten die Architekten die Rankfassade verschlanken

    Fotos: Stefan Müller

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    In der Evereststraße erhielt die Fassade eine zweite Haut aus einem Holzspalier mit einer Unterkonstruktion aus Metall
    Fotos: Stefan Müller-Naumann

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    In der Evereststraße erhielt die Fassade eine zweite Haut aus einem Holzspalier mit einer Unterkonstruktion aus Metall

    Fotos: Stefan Müller-Naumann

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    Aufgang aus der Serie 1, hier Evereststraße. Die Fensterlaibungen sind auch als Sitzbank geeignet.
    Foto: Stefan Müller-Naumann

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    Aufgang aus der Serie 1, hier Evereststraße. Die Fensterlaibungen sind auch als Sitzbank geeignet.

    Foto: Stefan Müller-Naumann

Der Kinder-Garten, verstanden als Garten für Kinder, ist von seinem Ursprung her ein Kind der romantischen Natursehnsucht im 19. Jahrhundert – ebenso wie ihrer Kehrseite, der zunehmenden Industrialisierung und der daraus sich entwickelnden Notwendigkeit, Zeit und Arbeitskraft der Eltern auf „Werk- und Erwerbstätigkeit“ zu konzentrieren. Im Gegensatz zu den seit Beginn des Jahrhunderts aufkommenden „Kinderbewahranstalten“ stand im Mittelpunkt des von dem Reform-Pädagogen und Pestalozzi-Schüler Friedrich Fröbel 1840 begründeten Kindergartens ein pädagogisches Konzept, das Spielen und vielfältige Aktivitäten im Garten sowie Bewegung an frischer Luft als zentrale Bestandteile umfasste. Vom thüringischen Blankenburg, dem Ort des ersten Fröbel`schen Kindergartens, trat das Konzept und das Begriffspaar Kind und Garten auch sprachlich seinen „Siegeszug“ an und etablierte sich als Ort kindlicher Bildung und Entfaltung in zahllosen westlich geprägten Ländern. Die Frage, wie viel Kind und Garten als Selbstentfaltung und Weltentdeckung einerseits und wie viel Bewahren als schützende Weltabwehr und Familienersatz andererseits wir uns in den für Kinder geplanten Orten gestatten wollen, ist umstritten, damals wie heute. Ihre politische Dimension wird deutlich, wenn man sich erinnert, dass Fröbels Kindergärten zeitweise von staatlicher Seite als subversiv verboten waren.
In München ist nun eine Serie von fünf Kindergärten, genauer gesagt „System-Kitas“, des Leipziger Büros schulz & schulz fertiggestellt worden, die auf das Garten-Motiv in emblematischer Weise zurückgreifen. Ihre Vorgeschichte reicht bis 2006 zurück, als der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder noch gar nicht absehbar war (dieser gilt erst seit 2013). Die Stadt München wollte mittels eines Wettbewerbs erkunden, ob sich mit modular aufgebauten Kinder-Tagesstätten, also einer Art Baukasten-System, das Angebot an Betreuung für Kinder von der Krippe über den Kindergarten bis hin zum Hort für Schulkinder deutlich erhöhen ließe. Für je fünf Standorte an den urbanen Randgebieten Münchens sollte die Anwendung des Systems untersucht werden, und für diese wurde eine konkrete Beauftragung in Aussicht gestellt. Das Leipziger Büro schulz & schulz ging damals als einer von zwei Preisträgern aus dem Wettbewerb hervor, und es scheint, dass die von den Architekten gewählte Übersetzung des oben skizzierten Bildes eines Kindergartens ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg war: Sie entschieden sich, ihre linear organisierten, kubischen Bauvolumen in eine begrünte, mit Kletterpflanzen umrankte Fassade zu hüllen. Die fünf Projekte wurden mit zeitlichem Abstand in zwei Serien geplant und realisiert.
Der 2010 fertiggestellte Kindergarten mit Hort in München Trudering gehört zur ersten Serie. Auf 437 m2 Nutzfläche bietet er Platz für zwei Kindergarten- und zwei Hortgruppen. Inmitten von vorstädtisch und quasi frisch gebaut wirkendem Reihen- und Doppelhausglück stellt sich der Bau als ein weißer Quader dar, der ringsum mit einem „Spalier“ aus horizontalen Holzlatten überzogen ist, die mit Abstand vor die Fassadenhaut gesetzt sind. Auf der Südseite ist der den Innenräumen vorgelagerte Laubengang immerhin schon bis zur Hälfte der Gebäudehöhe von lockerem Blattwerk eingehüllt; auf den anderen Seiten muss noch mehr gedüngt und gegossen werden. Die Architekten erläutern, dass das biedermeierliche Spalier tatsächlich eine der Anregungen des Entwurfs war. Leider wurden sowohl die Idee, bereits höher gezogene Pflanzen einzusetzen, als auch der durch die städtischen Gärtnereibetriebe zu leistende Pflegeaufwand auf ein „Kleinformat“ gespart. Ist das Bild der begrünten Gartenlaube in der Truderinger Einrichtung auch mit noch jungem Bewuchs ablesbar, ist dem gerade erst an den Nutzer übergebenen Kindergarten der zweiten Bauserie in München Allach die Überarbeitung anzusehen. Auf die Forderung hin, ein Erklettern des Spaliers zu verhindern, wurde die Struktur aus Latten durch ein feines Maschendrahtgewebe ersetzt, das (ohne Blätterkleid) weder unsichtbar ist noch eigene materielle Präsenz entfalten kann. Dieser Bau ist auch der kleinste der fünf Kindergärten und mit 268 m2 Nutzfläche für zwei Kindergartengruppen ausgelegt.
Beide Serien-Typen sind von ihrer Struktur her Wandbauten, die vorwiegend in Holz realisiert wurden, und zwar zunächst aus Dickholztafeln mit außen aufgebrachter Wärmedämmung (Serie 1 in Trudering). Für Serie 2 in Allach wurde dasselbe Prinzip in Holzrahmenbauweise mit Gefach- und Außendämmung umgesetzt. Hier wie dort wurden Decken als Brettstapel mit statisch wirksamem Aufbeton ausgeführt, sodass nachwachsende Rohstoffe in erheblichem Umfang zum Einsatz kamen. Der Wechsel des Wandaufbaus erklärt sich schlicht mit Einsparmöglichkeiten im Vergabeprozess. Serie 1 ist auch im Innenraum etwas näher an der ursprünglichen Gestaltungsabsicht der Architekten: Die tragenden Dickholztafeln sind hier als sicht- und spürbare Wandoberflächen belassen und nur mit einer Lasur geschützt, während in Serie 2 weiß gestrichene Gipsfaser den Innenraum neutraler hält. Der dunkelrote Linoleumboden bestimmt zusammen mit einer akustisch wirksamen Holzlatten-Decke die horizontalen Flächen bei beiden Serien. Die liegenden, sich nach außen stülpenden Fenster auf der Nordseite bilden bei beiden Einrichtungen im Innenraum Nischen, die mit Matratzen, Sitzbänken oder Kindergarderoben ausgestattet sind. Die im Wettbewerb ursprünglich nicht geforderten überdachten Laubengänge im Obergeschoss bieten (über ihre Funktion als Fluchtwege hinaus) vor allem im Sommer zusätzliche Qualitäten, sind aber aus Spargründen als Metallgitterrost ausgeführt worden.
Die vom Wettbewerb her gewünschte Modularität bezieht sich zunächst auf die Grundrissdisposition: Zwischen den „Kopfbereichen“ der länglichen Quader mit Eingangsbereich, Personal- und Nebenräumen können die eigentlichen Spiel- und Gruppenräume in verschiedener Länge, je nach Typ und Raumprogramm, angeordnet werden. In Querrichtung sind stets die Gruppenräume mit vorgelagertem Laubengang im Süden angeordnet, die Nebenräume wie Küchen sowie die Erschließungstreppe jenseits des asymmetrischen Mittelflurs befinden sich auf der Nordseite. Wie kommt die Modularität nun in der Konstruktion zum Ausdruck? Während der gerichtete Grundriss eventuell auch eine gerichtete Konstruktion nahelegen könnte, handelt es sich pragmatisch um eine ungerichtete Wandbauweise, die in beiden Grundrissachsen Durchbrüche von Fenstern, Türen und sogar verglaste Ecken wie beim Eingang zulässt; sie tritt strukturell nicht als den Raum prägendes Element in Erscheinung. Es gibt zwar sich wiederholende, gleich dimensionierte Wandelemente, aber die Erfahrungen im Rahmen des umfangreichen Münchner „Bauprogramms zur Realisierung von Kinderbetreuungsplätzen“ zeigen, dass die mittelständischen Strukturen im Baugewerbe einerseits und die variierenden und standortspezifischen Strukturen auf Bauherrenseite andererseits eine „Serienfertigung“ im engeren Sinne nur bedingt zulassen. Resümee: im jüngsten Bericht des federführenden Münchner Referats für Bildung und Sport zum oben genannten Programm findet sich ein neues „Pilotprojekt für die Errichtung einer Kindertagesstätte in Modulrahmenbauweise“ als Ausnahme wieder auf der Agenda – dabei stehen jetzt finanzielle und wirtschaftspolitische Aspekte im Mittelpunkt, nicht aber die architektonische und räumliche Qualität.



Fakten
Architekten Schulz & Schulz Architekten, Leipzig
Adresse Karpfenstrasse 20, 81825 München


aus Bauwelt 47.2014

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