Bauwelt

„Wir mussten uns ändern. Vor zwanzig Jahren war es zu Ende mit Lörrachs Rolle als Textilstandort“

Gudrun Heute-Bluhm und Walther Schwenzer im Gespräch mit Wilhelm Klauser

Text: Klauser, Wilhelm, Berlin

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Walther Schwenzer (vorn im Bild), Gudrun Heute-Blum, Wilhelm Klauser
Foto: Stadt Lörrach

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Wohnanlage „Stadion“
Foto: Wladyslaw Sojka

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Wohnanlage „Stadion“

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Innenstadt von Lörrach
Foto: Wladyslaw Sojka

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Innenstadt von Lörrach

Foto: Wladyslaw Sojka


„Wir mussten uns ändern. Vor zwanzig Jahren war es zu Ende mit Lörrachs Rolle als Textilstandort“

Gudrun Heute-Bluhm und Walther Schwenzer im Gespräch mit Wilhelm Klauser

Text: Klauser, Wilhelm, Berlin

Vor dem Bahnhof von Lörrach fällt sofort das 17-geschossige, grüne Hochhaus ins Auge: Höchstes Rathaus in Baden-Württemberg! Der Verwaltungsbau stammt aus den siebziger Jahren, steht mittlerweile unter Denkmalschutz und strahlt eine bemerkenswerte Entspanntheit aus: Kleinstadt mit Hochhaus funktioniert, wenn die Architektur stimmt!
Später, auf der Dachterrasse, zeigen mir die Oberbürgermeisterin Gudrun Heute-Bluhm und der Fachbereichsleiter für Stadtplanung und Baurecht Walther Schwenzer die Stadt. Regenverhangen an diesem Tag der Schwarzwald, im Norden und Osten. Die auslaufenden Hänge reichen bis in die Stadt: Einzelhaushänge. Mit einer großen Geste schneidet die Wiesentalbrücke der A98 den Horizont, dahinter die Ruine der Burg Rötteln. Aus dem Wiesental kommt die S-Bahn und hält. Unmittelbar neben dem Rathaus, jenseits der Gleise, liegt das Milka-Werk. Aus Lörrach kommt Schokolade für die Welt: In fünf Schichten wird täglich produziert, dank der neuen Verpackung ist das jetzt möglich. Nach Süden weitet sich das Tal. Dort liegt Basel, die Metropole in einer Agglomeration, die fast eine Millionen Einwohner zählt.
Gibt es eine Art roten Faden, ein zentrales Thema, an dem Sie während Ihrer Amtszeit in Lörrach immer festgehalten haben?
Gudrun Heute-Bluhm | Lörrach versteht sich als das deutsche Zentrum in einer trinationalen Grenzregion mit der Schweiz und mit Frankreich. Diese Art Nachbarschaft war für mich wirklich eine Herausforderung. Die Arbeit in und mit der Grenz­region ist auch deswegen eine Konstante, weil sie uns über viele Themenfelder hinweg leitet. Fangen wir mit der Verkehrsstruktur an: Natürlich gab es mit der Bahnverbindung Basel-Lörrach schon immer ein Rückgrat. Wir haben mittlerweile aber eine moderne und auch von uns mitfinanzierte S-Bahn. Das ist etwas anderes als ein alter Silberling, der immer wieder mal vom Badischen Bahnhof in Basel hinauf in das Wiesental fährt. Auch im Kulturbereich lässt sich das Zusammenwachsen der Region ablesen. Als vor zwanzig Jahren Patricia Kaas und Joan Baez zum ersten von uns organisierten „Stimmen-Festival“ kamen, konnten wir den Lörrachern zeigen, dass sie nicht mehr nach Basel müssen, um Kultur zu finden. Dieses Jahr findet das Festival zum zwanzigsten Mal statt. Es gibt heute im Kulturbereich eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die wir auch bewusst komplementär konzipieren. Das zahlt sich aus: Wir können eigene kulturelle Angebote nicht nur tragen, sondern auch entwickeln. Das Publikum kommt. Wir haben mit diesem Programm in der Region ein eigenes Gesicht bekommen, und diese Entwicklung hat das Selbstbewusstsein der Lörracher wachsen lassen.
Konkretisiert sich diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit an Leuchtturmprojekten? Und wie sieht es mit dem gegenseitigen Geben und Nehmen aus?
GH-B | Wir sind als alte Amtsstadt mit allen Zentralfunktionen ausgestattet. Wir profitieren davon, dass Basel auf der anderen Seite der Grenze liegt, also exterritorial ist. Das heißt, dass Verwaltungsfunk­tionen und andere zentrale Funktionen bei uns abgerufen werden und nicht in der großen Stadt nebenan. Es gibt ein Landratsamt, ein Finanzamt, ein Amtsgericht und eine duale Hochschule – und es gibt eine Innenstadt. Das fehlt den Nachbarstädten. Wir haben die Innenstadt sehr zielstrebig ent­wickelt. Es gibt eine einfache, ablesbare Platz- und Straßenabfolge, die mit wenigen Mitteln artikuliert ist. Jeder Platz hat heute sein eigenes Gesicht, was wir durch ein Kunstkonzept im öffentlichen Raum unterstreichen: Man hat sich in Lörrach vor zwanzig Jahren getraut, Dinge zu tun, die man bei einer Stadt von damals 45.000 Einwohnern sicherlich nicht ohne weiteres vermutet hätte. Das hat uns auch Anerkennung in Basel verschafft. Das ist wichtig, denn vor zwanzig Jahren war es zu Ende mit Lörrachs Rolle als Textilstandort. Wir verloren Arbeitsplätze in der Produktion, viele Fabriken standen leer. Die Baseler Industrie hat sich damals ebenfalls verändert. Auch dort sind die Produktionsarbeitsplätze verschwunden. Novartis und Roche haben die Herstellung verlagert, plötzlich kamen die Dienstleistung und die Ingenieure. Es entstanden ganz neue Forschungs- und Entwicklungsstandorte. 
Wie sahen diese Umbrüche in der Grenzregion konkret aus?
GH-B | Es gab damals nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, die zum Handeln zwang, es gab auch eine politische Entwicklung, die den Prozess flankierte. Die Baseler Regierung hat sich 1990, entgegen der Schweizer EWR-Abstimmungs­ergebnisse, dezidiert dafür entschieden, auch über die Grenze zu schauen, auf das, was bei den Nachbarn passiert. 1995 hat sich die trinationale Agglomeration Basel (TAB) formiert, um gemeinsam Raumentwicklungsstrategien zu konzipieren. Daraus ist 2007 der Eurodistrikt Basel (TEB) entstanden, um das Arbeitsspektrum zu erweitern. Heute gibt es die IBA, ein Kind des Eurodistrikts (Heft 12.2013). Die damalige Baseler Baudirektorin und Regierungsrätin Barbara Schneider hatte alle Bürgermeister des Umlands auf das Schiff Christoph Merian eingeladen. Man hat sich kennengelernt. Das hat sich dann fortentwickelt. Eine ganze Reihe von Projekten könnte man national kaum mehr andenken, auch was die Förderung betrifft, geht das mit der trinationalen Grenzregion besser.
Besteht bei all diesen Projekten über die Grenzen hinweg nicht auch die Gefahr, dass die Identität der Stadt Lörrach verlorengeht?
GH-B | Ich sage, wir leben hier in einer trinationalen Regionalstadt. Wenn es an Regionalbewusstsein fehlen sollte, dann liegt das häufig nicht an der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, sondern eher an den klassischen Konflikten zwischen Stadt und Land.
Basel ist im Übrigen eine stolze Stadt mit einer langen Vergangenheit. Die kümmert sich nicht darum, was hier in Lörrach passiert. Das müssen wir schon selber tun. Das haben wir auch, und im Lauf der Zeit hat sich die Einstellung der Baseler zu den Lörrachern verändert. Das ist durchaus bemerkenswert. Lörrach ist eine eher arme Stadt, wirtschaftlich gesehen. Historisch betrachtet eine Arbeiterstadt, eine Dienstbotenstadt für Basel, ein „Vorhof“.
Innenentwicklung
Wie hat sich der Wohnungsmarkt angesichts der neuen wirtschaftlichen und demographischen Rahmenbedingungen verändert?
GH-B | Wir haben mit der städtischen Tochter „Wohnbau Lörrach“ einen wichtigen Akteur auf dem hiesigen Wohnungsmarkt. Sie besitzt ungefähr 3000 Wohnungen und verwaltet weitere 1000 Wohnungen. Sie hat in den vergangenen Jahren begonnen, den Wohnungsbestand umfassend zu modernisieren. Soziale Konflikte konnten so aufgefangen werden. Es wurden mehrere Gebiete saniert, denkmalgeschützte Bausubstanz gemeinsam im sozialen Arbeitskreis für die Bewohner „Hartz 4 und weniger“ umgebaut. Derzeit läuft ein weiteres Projekt mit Betroffenen. Ein anderer Bereich in unserem Wohnbauprogramm, „high end“, bedient die große Nachfrage nach hochwertigen Mietwohnungen, zum Beispiel am Niederfeldplatz direkt am Bahnhof. Der innerstädtische Wohnungs­bau ist quasi ein Selbstläufer.
Ich sehe hier vom Rathausturm aus die Hangbebauungen von Lörrach: vorwiegend Einfamilienhäuser. Was setzen Sie der räumlichen Auflösung der Stadt entgegen. Wo liegen für Sie die Chancen zur Verdichtung?
Walther Schlenzer | Wir erleben heute einen Umbruch. Den begleiten wir durch Bauleitplanung, indem wir zum Beispiel die ursprünglichen Einzelhausbebauungen langsam in dichtere Wohnformen überführen. Wir nutzen da den Generationenübergang. Es kommen jetzt verstärkt Grundstücke in den Hangbereichen auf den Markt, deren Besitzer entweder in die Innenstadt ziehen wollen oder deren Erben nicht selbst einziehen möchten. Die Vermittlung ist nicht immer einfach, weil dieser Wechsel ja nicht auf allen Grundstücken gleichzeitig stattfindet. Diejenigen, die dort heute wohnen, möchten ihre Substanz halten, während die Neuen eine höhere wirtschaftliche Ausnutzung erzielen wollen. Wir begleiten diesen Prozess mit einer Freiraumplanung, die die vorhandene Wohnqualität berücksichtigt. Ich betrachte es als glücklichen Umstand der hiesigen Planung, dass in meiner Person die Funk­tionen Stadtplanung und das Baurecht zusammenkommen, wir können diese Übergangsphase so besser begleiten. Wir haben im Jahr 2011 den Flächennutzungsplan neu beschlossen, darin sind weniger neue Flächen ausgewiesen als wir gestrichen haben.
Das heißt Lörrach schrumpft?
WS | Wir müssen immer noch neue Wohngebiete ausweisen, weil der Flächenbedarf pro Person wächst. Das ist aus fach­licher Sicht nicht nachzuvollziehen. Wir sind im Augenblick bei 45 Quadratmeter Wohnfläche pro Person. Das ist wirtschaftlich grenzwertig, zumal eine Stadt die notwendige In­frastruktur unterhalten und pflegen muss. Wir bemühen uns, vorhandene Infrastruktur stärker zu nutzen und damit Kosten zu minimieren.
Welche Werkzeuge haben Sie, um solche Entwicklungen im Sinn der Stadt zu beeinflussen?
WS | Wichtig ist, dass man als Stadt „Neugierde“ erzeugt – es muss sich lohnen, hier zu leben. Sie brauchen als Stadt heute attraktive Arbeitsplätze, ein vielfältiges kulturelles Angebot und sie brauchen dafür die Struktur, sprich die Hardware, die sie auch erhalten können müssen, ergänzt durch ein angemessenes Wohnraumangebot. Das ist eine unternehmerische Herausforderung. Wir gehen jetzt nur noch dann in die Erschließung von Neubaugebieten, wenn wir diese Grundstücke im Eigentum der Stadt haben. Von kommunaler Seite wurde lange versäumt, mit der Erschließung von Bauland die finanziellen Grundlagen für den urbanen Ausbau der Städte zu schaffen. Man muss es sich leisten können, Jahre auf eine Bebauung zu verzichten. Sobald ein Investor spürt, dass sie auf sein Geld wirklich angewiesen sind, haben sie verloren.
Und was ist mit der Nachfrage nach Wohnungsbau?
WS | Die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum ist am dringlichsten. Es geht dabei um ein breites Spektrum, von Unterkünften für Asylsuchende bis zu hochwertigem Wohnraum. Die städtische Wohnbaugesellschaft stabilisiert mit ihrem breiten Angebot den Wohnungsmarkt und wirkt auch preisdämpfend. Mit ihrer Hilfe sind wir in der Lage, strate­gische Stadtentwicklung zu betreiben, Brennpunkten entgegen zu wirken, aber auch mit vorbildlichen Realisierungen Maßstäbe zu setzen. Ich bin sehr froh darüber, dass wir unsere Wohnbauten in wirtschaftlich schlechten Zeiten nicht, wie andere Städte, veräußert haben. 
Betroffene und Beteiligte
Wie beteiligen Sie die Bürger bei all diesen Änderungen in der Planungskonzeption?
WS | Wir haben eine Betroffenenbeteiligung in unserem Staat, keine Bürgerbeteiligung im eigentlichen Sinne. Wir hatten in Lörrach im Juli eine Oberbürgermeisterwahl mit einer Wahlbeteiligung von 30,09 Prozent. Das zeigt, wie wenige bereit sind, selbst im einfachsten und zugänglichsten Beteiligungsverfahren ihr Votum abzugeben. Da gibt es ein Spannungsfeld, in das wir in der Bundesrepublik langsam hineinwachsen. Ich beobachte das auch in anderen Städten, das ist nicht nur ein Lörracher Phänomen: Öffentliche Planung wird immer weniger akzeptiert, sobald sie einen selbst betrifft. Einzelinteressen werden in den Vordergrund gestellt. Beteiligung wird erst dann eingefordert, wenn der Bürger selbst betroffen ist.
Wie gehen Sie mit dieser Distanz zum Allgemeininteresse um?
WS | Es gibt Entwicklungen, die man gerade auch im Sinne des öffentlichen Wohls, was man ja zu kennen meint, genau abwägen muss. Man versucht, Entscheidungen herbeizuführen. Die von fachlicher Seite aus getragene Einschätzung, dass man die landschaftlichen Ränder in den Außenbereichen der Stadt stärker schützen sollte, bedeutet im Umkehrschluss Nachverdichtung innerhalb der Stadt – gerade auch wenn man sich die gesteigerten Wohnbedürfnisse pro Person vor Augen hält. Die Nachbarschaftsbeteiligung im Fall einer Nachverdichtung blickt aber meist nur auf die Belastung durch den Verkehr, den die zusätzliche Nutzung verursacht. Dies erfordert die Abwägung in der Sache. Wir konzentrieren uns in der Flächennutzungsplanung darauf, die Ränder der Stadt, wo möglich, frei zu halten; den erkennbaren Wunsch, in die Innenstadt „zurückzukehren“, greifen wir auf. Das bedeutet eine Auseinandersetzung mit den Stellen der Stadt, die eine stärkere Verstädterung, mehr Urbanität, vertragen. Stadt wird nicht gebaut, Stadt wird gelebt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist es nicht so wichtig, wie die Häuser aussehen, sondern wie sie genutzt werden. Das heißt allerdings nicht – wir befinden uns ja in der Nachbarschaft von Basel – dass Architektur nicht gefordert ist.
Fakten
Architekten Heute-Bluhm, Gudrun, Lörrach; Schwenzer, Walther, Lörrach
aus Bauwelt 36.2014
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