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Segregation - ja oder nein?

„Segregation dient nicht zuletzt der Konfliktvermeidung“

Text: Siebel, Walter, Oldenburg

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Segregation - ja oder nein?

„Segregation dient nicht zuletzt der Konfliktvermeidung“

Text: Siebel, Walter, Oldenburg

Eine vielfältige Mischung verschiedener Kulturen gilt als Grundvoraussetzung für eine urbane und tolerante Stadt­gesellschaft. Einige Wissenschaftler betonen aber die positiven Eigenschaften segregierter Viertel. Sollten die Städte also aufhören, gegen Segregation anzukämpfen?
Moderne Gesellschaften werden nicht nur durch Homogenität integriert, sondern ebenso durch ihre Fähigkeit, Differenz gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. In Städten funktioniert das ähnlich wie auf Märkten, in der Demokratie oder im Rechtsstaat, wo es um Waren, Qualifikationen oder Geld geht. Die Teilhabe läuft hier ohne Ansehen der Person, unabhängig von Hautfarbe, Bildung oder politischen Überzeugungen.
Auch im öffentlichen Raum der Stadt begegnen sich erst einmal alle Einwohner, auch „Einheimische“, als Fremde. „Fremdheit“ wird eben nicht erst durch Migration importiert. Moderne Städte produzieren aus sich heraus eine Vielzahl unterschiedlichster Milieus. Die Angehörigen bestimmter Jugendkulturen dürften dem deutschen Arbeiter ferner stehen als sein türkischer Kollege. Deshalb hat sich in den Städten vor aller Zuwanderung eine urbane Mentalität entwickelt, die eine zwanglose und konfliktfreie Koexistenz ermöglicht. Der Soziologe Georg Simmel hat dies mit den Begriffen Reserviertheit, Blasiertheit, Gleichgültigkeit und Intellektualität umschrieben. Der Städter wappnet sich gegen die beunruhigende Erfahrung der alltäglichen Unvertrautheit mit Distanz. Typisch für Kontakte unter Städtern im öffentlichen Raum sind segmentierte, auf einen spezifischen Zweck hin eingeengte Beziehungen, bei denen bewusst alle anderen Aspekte der Persönlichkeit, der eigenen wie der des Gegenübers, ausgeklammert bleiben.
Doch die meisten Migranten, die nach Deutschland kommen – in der Schweiz ist das ganz anders –, sind arm und landen aus diesem Grund in Wohngebieten, wo sie nicht auf den Simmel’schen Großstadtcharakter treffen, sondern auf die deutschen „Verlierer“ des Strukturwandels. Manche dieser von der Gesellschaft Benachteiligten suchen Sündenböcke, und dazu eignen sich Zuwanderer hervorragend. Wenn solche erzwungene Nachbarschaft dann noch in einer Umgebung zustande kommt, die alle äußeren Zeichen der Vernachlässigung trägt, wird den Bewohnern tagtäglich ihre Randständigkeit vor Augen geführt. Dann sind diese „überforderten Nachbarschaften“ (wie es eine Studie der empirica 1998 formulierte) oft Orte gegen­seitiger aggressiver Abgrenzung. Daher dient räumliche Distanz durch Segregation nicht zuletzt der Konfliktvermeidung, indem sie die täg­lichen Reibungen und Ärgernisse zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Lebensweisen verringert.
 Ethnische Enklaven erfüllen durchaus positive Funktionen im Prozess der Integration.   Sie bieten einen Übergangsraum, von dem aus die Zuwanderer die neue Gesellschaft allmählich kennenlernen können. Die Ballung von Zuwanderern in bestimmten Vierteln ist ein Phänomen aller Einwanderungsstädte. Auch die Deutschen sind in den USA zunächst einmal nach „German Town“ gezogen. Einwanderungsstädte brauchen Einwanderungsquartiere. Die räumlich getrennten kleinen Welten, in denen sich die verschiedenen Einwanderergruppen konzentrieren, bilden einen Puffer zwischen dem eingewanderten Individuum und der Aufnahmegesellschaft.
Freiwillige Segregation hat wichtige Vorteile: Gerade neu Zugewanderte, die noch nicht vollständig in sozialstaatlichen Netzen integriert sind, sind auf informelle Hilfsnetze angewiesen. Solche Netze bilden sich in der Regel leichter unter Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Sie finden in den ethnischen Enklaven erste Informationen über die neue Umgebung, materielle Hilfen, Arbeitsmöglichkeiten, Schutz vor Isolation und Unterstützung in psychischen Krisen, die so oft mit Migration verbunden sind – oder auch nur Menschen, die dieselbe Sprache sprechen. Die Stadt als Mosaik verschiedener Lebenswelten bietet jene Räume des Übergangs, in denen der Schock der Migration gemildert wird.
Allerdings sind Einwanderungsquartiere immer auch in Gefahr, zu Fallen zu werden, wenn sich Menschen – häufig nach gescheiterten Integrationsversuchen – in ein erstarrtes Herkunftsmilieu zurückziehen. Je größer die soziale Gruppe, je mehr sie ausgegrenzt wird, desto höher ist die Gefahr des Rückzugs. Erste und wichtigste Voraussetzung, dies zu vermeiden, wäre, für die Funktionsfähigkeit von Markt, Demokratie, Recht und Stadt zu sorgen. Wären es entsprechend ihrer Funktionslogik prinzipiell offene Systeme, brauchte es kaum mehr eine gesonderte Politik zur Integration von Zuwanderern.
Das Wichtigste ist, dass Segregation freiwillig und nicht gezwungenermaßen durch Diskriminierung, Wohnungspolitik oder Marktmechanismen zustande kommt. Das muss die oberste Maxime städtischer Integrationspolitik sein.
Allerdings, die Differenzierung zwischen freiwilliger und erzwungener Segregation ist nur analytisch leicht. In der Praxis überlagern sich Elemente freiwilliger und erzwungener Segregation. Das aber rechtfertigt keineswegs, nun durch Stadt- und Wohnungspolitik jede Form der Segregation zu verhindern. Eine erzwungene Mischung ist ebenso wenig integrationsfördernd wie erzwungene Segregation, da sie den Aufbau der informellen Netze behindert, auf die gerade neu Zugewanderte besonders angewiesen sind. Zuwanderung verlangt daher von der Stadtpolitik einen Balanceakt auf schmalem Grat: freiwillige Segregation muss ermöglicht werden, beispielsweise indem man mittels Wohngeld, sozial gebundenen Wohnungen und durch Sicherung erschwinglichen Wohnraums die Optionen von Zuwanderern auf dem Wohnungsmarkt erweitert – in allen Quartieren einer Stadt. Erzwungene Segregation muss verhindert werden, beispielsweise durch Antidiskriminierungsmaßnahmen.  Einwandererquartiere müssen als Tatsache in der Stadt anerkannt werden, und zugleich muss alles daran gesetzt werden, dass sie nicht zu Fallen werden, aus denen die Zuwanderer keinen Weg mehr in die Aufnahmegesellschaft finden.  Auf diese schwierige Gratwanderung zielt die Maxime „Integration trotz Segregation“.

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