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Kein Platz, der mir gehört

Text: Fastnacht, Xenia, Karlsruhe; Cairns, Anna, Karlsruhe

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Kein Platz, der mir gehört

Text: Fastnacht, Xenia, Karlsruhe; Cairns, Anna, Karlsruhe

Zehn Tage, sechs Interviews, vier Kinderzimmer, Cranberryschnaps. Ein Besuch in Thessaloniki, um zu erfahren, warum so viele Griechen wieder in ihrem Elternhaus wohnen.
»Wenn schon der Mensch als solcher das Unglück in sich trägt, dann haben bestimmte Menschen eine ausgeprägtere Veranlagung dazu. Sogar bestimmte Völker. Unter ihnen mit Sicherheit die Griechen. Die Neugriechen.«

Der Wahrheitsgehalt dieser These des zeitgenössischen griechischen Philosophen Nikos Dimou sei dahingestellt. Sie wurde bereits vor 38 Jahren im Aphorismenband Über das Unglück, ein Grieche zu sein in Bezug auf die Zeit der griechischen Militärdiktatur veröffentlicht. Doch stellt sich durch sie eine interessante Frage: Wie geht es den Griechen eigentlich heute? In Zeiten, in denen »Wirtschaftskrise« eine der ersten Assoziationen zu ihrer Heimat lautet? Während sich das Land seit nunmehr fast drei Jahren in tiefer Rezession befindet – ein Zustand, der sich schon über einen langen Zeitraum hinweg anbahnte – und die geschätzte Staatsverschuldung für das gerade angebrochene Jahr 345,25 Milliarden Euro beträgt (IMF). Wer »den Griechen« über Google sucht, stößt auf Begriffe wie »Pleite« und »Betrug«. Über die Bürger, die zurzeit in dem von Sparmaßnahmen gepeinigten Land leben, liest man kaum etwas. Wie sich die Finanzkrise auf die Bewohner des Landes auswirkt, erfährt man erst nach intensiver Recherche. Unter den wenigen tiefer gehenden Berichten über die gegenwärtige Lage der Griechen ist dann oft der Leserkommentar »Einzelschicksale« zu finden.

Ein Phänomen der Krise und der damit verbundenen hohen Arbeitslosigkeit und finanziellen Probleme ist es, dass immer mehr Griechen dazu gezwungen sind, ihre Wohnungen aufzugeben und zurück zu ihren Eltern zu ziehen.

Dabei scheint es sich nicht um Einzelfälle zu handeln, sondern um ein typisches Phänomen in wirtschaftlich angeschlagenen Ländern wie Griechenland, Bulgarien oder der Slowakei. Während im Jahr 2011 in Deutschland 14,7 Prozent der 25- bis 34-Jährigen noch mit ihren Eltern lebten, waren es in Griechenland 50,7 Prozent (Der Spiegel, 3/2013). Dabei handelt es sich sowohl um Personen, die ihr Zuhause nie verlassen haben, als auch um all jene, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation dazu gezwungen sind, in ihre Kinderzimmer zurückzukehren. Eine wichtige Rolle dabei spielt auch der Familienzusammenhalt, der in Griechenland im Vergleich zu Ländern West- und Nordeuropas stärker ausgeprägt ist.

Welche individuellen Auslöser führen zu diesem Entschluss und was bedeutet dieser Rückzug im doppelten Wortsinn für die Betroffenen? In diesem Beitrag sollen Räume gezeigt werden, die Kinderzimmer waren und nun Erwachsenen als Zuhause dienen. Wie gehen die Betroffenen mit dem Wandel ihres Lebensraums um? Welchen Einfluss hat die Krise auf den Wohnraum?

Es werden vier »Einzelschicksale« mit Fotografien ihrer Zimmer vorgestellt. 


Petros

Petros wohnt seit eineinhalb Jahren wieder in der Wohnung seiner Eltern, in der er aufgewachsen ist und seine Schul- und Studienzeit verbracht hat. »Ich bin mit 24 Jahren von zu Hause ausgezogen. Die darauf folgenden sechs Jahre war ich ein wenig selbstständig. Nicht nur ein wenig, eigentlich so richtig.« Nach seinem Auszug wohnte er zunächst in einer Eigentumswohnung seiner Eltern im gleichen Haus, drei Stockwerke über ihnen, zog dann für zwei Jahre nach Zypern und lebte zuletzt mit einem Mitbewohner im Westen Thessalonikis. »In meiner ersten eigenen Wohnung standen mir 40 Quadratmeter zur Verfügung, auf Zypern hatte ich ein Haus mit 200 Quadratmetern nur für mich und meinen Hund. Jetzt lebe ich zusammen mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder auf etwa 75 Quadratmetern.« Es gibt nicht genug Platz für alle. Die Dinge, die er sich für seine eigenen vier Wände angeschafft hatte, musste er beim Auszug seiner letzten Bleibe verkaufen. In der Zwischenzeit hat sein Bruder sein altes Zimmer übernommen; er selbst lebt in dessen ehemaligem Kinderzimmer, in dem die Einrichtung fast komplett von seinem Bruder stammt. Er hat lediglich einen Schrank, ein paar persönliche Gegenstände und Bilder an der Wand beigetragen. »Es stört mich nicht, dass ich wenig Platz habe. Es stört mich, dass ich keinen Platz habe, der komplett mir gehört.«

Nach fünf Monaten Arbeitslosigkeit fand Petros wieder eine Anstellung. Zu seiner Arbeit fährt er täglich eine Stunde mit dem Bus. »Das würde mit dem Auto schneller gehen, da es wegen der Krise weniger Verkehr gibt. Aber eben wegen der Krise kann ich mir auch das Benzin nicht mehr leisten.« Aufgrund der Fahrten und seiner langen Arbeitszeiten ist er nur zum Essen und Schlafen zu Hause. Wenn er von der Arbeit zurückkommt, geht er aus und trifft sich mit Freunden, an den Wochenenden fährt er weg. »Mein Zimmer ist ein Ort, an dem ich schlafe und meine Sachen habe. Aber es ist nicht mein Zuhause.« Zu seinen Eltern hat er ein gutes Verhältnis, sie sind gastfreundlich, wollen helfen und haben Geduld mit ihm. »Ich habe eine typisch griechische Mutter, die mich – manchmal fast schon übertrieben – umsorgt.« Dennoch sagt er, es sei problematisch, wieder mit seiner Familie unter einem Dach zu leben. »Nach sechs Jahren habe ich vergessen, wie es ist, mit meinen Eltern zu leben. Das ist kein natürlicher Zustand mit 31 Jahren. Es gibt viel Streit um Belanglosigkeiten. Diese schlechte Stimmung hätten wir nicht, wenn wir an unterschiedlichen Orten leben würden.« Daher spart Petros im Moment seine Einnahmen, um so bald wie möglich ausziehen zu können. »In drei bis vier Monaten werde ich mir eine eigene Wohnung suchen. Ich will das gute Verhältnis zu meinen Eltern nicht aufs Spiel setzen, und meine Arbeit scheint relativ sicher, so dass ich diesen Schritt noch einmal wagen kann. Meiner Meinung nach bin ich einer der ›guten Fälle‹, allein sechs Freunde von mir haben es teilweise trotz Arbeit finanziell nie geschafft, aus ihrem Elternhaus auszuziehen. Ich bin ungeachtet der Umstände und Probleme überzeugt, die richtige Entscheidung für mich getroffen zu haben.«


Vassilis

Vassilis wohnt mit seinen Eltern in einer Dreizimmerwohnung. Umgezogen ist er bis jetzt nur einmal: Von seinem Kinderzimmer in das ehemalige Zimmer seiner Großmutter. Nur während seines Militärdienstes lebte er nicht unter einem Dach mit seinen Eltern. »Wenn ich getrennt von ihnen leben wollte, müsste ich regelmäßig Miete zahlen. Ich weiß aber nie, ob ich dieses Geld gerade aufbringen kann.« Trotz zweifachen Studiums und einer Anstellung als Rechtsanwalt sowie als Klavierlehrer am staatlichen Konservatorium hat er keine finanzielle Sicherheit. »Das Konservatorium ist eine öffentliche Institution mit einem festen monatlichen Gehalt. Es gibt aber nicht mehr genug Geld, um die Angestellten zu bezahlen. Im Juni 2012 erhielt ich mein Gehalt für den Monat Januar. Im September wurde ich für die Monate Februar, März und April und jetzt zum Jahresende für Mai, Juni und Juli entlohnt. Obwohl bereits das Jahr 2013 angebrochen ist, fehlen noch die Gehälter für die Monate August bis Dezember. Ich weiß nie, wann ich das nächste Mal mein Geld erhalte. Dadurch kann ich nichts planen, was mit regelmäßigen Kosten zu tun hat.« Neben der ausbleibenden Bezahlung steigen allerdings seine Ausgaben weiter an. »Ich muss jetzt im Januar an die Versicherungskasse der Rechtsanwälte für das vergangene Jahr 4000 Euro zahlen. Das bedeutet, vier Monatsgehälter des Konservatoriums sind weg. So ist es, als hätten sie mich lediglich für Januar, Februar und März bezahlt. Im vorletzten Jahr standen noch 13 Monatslöhne aus. Zum Jahresende wird einem vom Konservatorium allerdings eine Bestätigung ausgehändigt, die besagt, dass man bezahlt wurde. Dieses Formular gibt man dann beim Finanzamt ab, und dort wird das Jahresgehalt besteuert. Das Geld hatte ich zwar noch nicht erhalten, und das wurde auch vermerkt. Die Steuern musste ich dennoch zahlen.« Seine letzten Aufträge als Anwalt liegen bereits zwei Jahre zurück. »2011 hatte ich zwei bis drei Fälle. Meine Honorarrechnungen wurden bis heute nicht beglichen. Ich rechne auch nicht mehr damit.« Als privater Klavierlehrer verdient Vassilis sich jeden Monat etwas dazu. Doch von seinen sechs Schülern setzt nur einer den Unterricht auch in diesem Jahr fort – unter der Bedingung, dass der Preis gesenkt wird.

Vor fünf Jahren wäre Vassilis beinahe ausgezogen, aber »aufgrund der Krise wurde dann nichts daraus«. Die Eigentumswohnung der Eltern war schon renoviert, der Umzug stand kurz bevor. Als aber seine Eltern die ersten Auswirkungen der Wirtschaftskrise spürten, entschieden sie sich, die Wohnung zu vermieten.

Einen Vorteil an seiner momentanen Wohnsituation sieht er in der Tatsache, sich um seine Eltern kümmern zu können. »Die beiden sind
78 Jahre alt, da ist es gut, dass ich fast immer vor Ort bin und ihnen sofort helfen kann. Sei es im Haushalt, bei Einkäufen oder wenn sie krank werden. Abgesehen davon freuen sie sich natürlich, ihr Kind um sich zu haben.« Auch fällt für ihn so weniger Arbeit an. Seine Mutter kocht für alle Familienmitglieder und kümmert sich um die Wäsche. »Im Sommer verbringen wir unseren Urlaub meist am gleichen Ort, aber in verschiedenen Wohnungen. Da merke ich den Unterschied. Im Winter habe ich es gut, da werde ich umsorgt«, meint er lachend. »Manchmal ertappe ich mich dabei, mich verwöhnt zu fühlen, sicher und mit weniger Verantwortung. Sobald ich beginne, wieder die Rolle des Kindes einzunehmen, mache ich mir bewusst, dass nun ich das beschützende Mitglied der Familie bin. Meine Eltern geben mir Sicherheit und andere Dinge, die ich sonst nicht hätte. Aber ich versuche dafür, mich umso mehr um sie zu kümmern.«

Doch belastet ihn seine Wohnsituation auch. »Sie beschweren sich und haben natürlich ihre eigenen Probleme. Es sind zwei alte Menschen, ich lebe nicht gerade in einer frischen Umgebung.« Er will Rücksicht auf sie nehmen und lädt Freunde nur ungern zu sich nach Hause ein. »Wenn ich Besuch bekomme, gibt es außerdem fast immer den Moment, in dem sich mein Vater zu uns setzt. Dann beginnt er zu erzählen. Ich habe das alles schon mindestens zehntausendmal gehört. Ich ertrage die Wiederholungen nicht. Er weiß das natürlich auch schon, rechtfertigt sich aber damit, dass es für meinen Gast etwas Neues ist. Dann muss ich ihm irgendwann ein Zeichen geben, dass er uns in Ruhe lassen soll.«

Dennoch hat Vassilis ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern. Er achtet sie und sie ihn ebenso. Auch würdigen sie, was er bisher in seinem privaten und beruflichen Leben erreicht hat und wie er sich um sie kümmert. Sie wünschen sich aber sehr für ihren Sohn, dass er bald sein eigenes Leben aufbauen kann. »Es ist gut, dass uns allen bewusst ist, dass dies kein natürlicher Zustand ist, sondern von den Umständen erzwungen wird.

Fragen nach seiner Wohnsituation sind dem 43-Jährigen unangenehm. »Wenn ich antworten muss, dass ich mit meinen Eltern lebe, dann schäme ich mich ein wenig. Ich sage dann immer sofort dazu, dass ich vom Konservatorium nicht bezahlt wurde und kein Geld habe. Was soll ich machen.« Vassilis hätte in Zukunft gerne eine eigene Wohnung. Allerdings möchte er in der Nähe seiner Eltern bleiben, damit sie nicht plötzlich komplett auf sich gestellt sind. »Ich habe aber generell gelernt, keine Pläne für die Zukunft zu machen. Ich musste zu oft erleben, dass ich sie nicht verwirklichen kann.«


Jannis

Jannis ist vor vier Jahren zu seiner jetzt 83-Jährigen Mutter zurückgekehrt. Die gemeinsame Wohnung befindet sich in einem kleinen Einfamilienhaus, das vor etwa 50 Jahren von seinen Eltern erbaut wurde. »Unser Haus wurde auf Felsen errichtet. Mein Vater war Gemüsehändler, der seine Ware vom Pferdewagen herunter verkaufte. Nach seiner Arbeit hat er dann aus dem Felsen Stück für Stück ein Untergeschoss herausgeschlagen, das als Pferdestall diente. Die Familie wohnte im oberen Stockwerk.«

Dort lebt heute Jannis’ Bruder mit seiner Familie. Jannis selbst hat mit der Mutter den Keller bezogen. »Über die Jahre haben wir das Untergeschoss zu einer kleinen Wohnung umgebaut. Ich schlafe nun da, wo früher Vaters Pferd stand – was hat das Schicksal nur mit mir gemacht?«

Seit eineinhalb Jahren ist er arbeitslos, hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, kann aber keine feste Anstellung finden. Er würde sich gerne selbstständig machen, denkt an ein Projekt in Zusammenhang mit dem Internet und Thessaloniki. Aber ihm fehlt das Startkapital, er hat hohe Schulden und leidet zudem unter gesundheitlichen Problemen.

Jannis ist in Thessaloniki zur Schule gegangen und hat im Anschluss an der dortigen Universität Wirtschaft studiert. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie. »Ab meinem 12. Lebensjahr hat mich mein Vater sofort mit auf Baustellen genommen. Wir haben in Bädern und Küchen Fliesen verlegt. Wir hätten auch ohne meine Hilfe überleben können, aber zu arbeiten war eine Ehre, eine Wertschätzung. Man war stolz darauf. Davon habe ich profitiert, als ich vorletztes Jahr gescheitert bin. Das ist der Grund, warum ich mich noch nicht umgebracht habe nach all dem, was mir zugestoßen ist.«

Mit 21 Jahren verließ er sein Elternhaus und ging nach seinem Studium für eineinhalb Jahre in die USA. »Im Alter von 28 Jahren habe ich dort meinen ersten Schock erlitten und den Entschluss gefasst, in einer solchen Gesellschaft nicht leben zu wollen. Die ersten Monate waren so angenehm. Ich sah alles, wie es auf den ersten Blick erschien, und war begeistert. Dann aber begann ich, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind. Und genau das warf mich aus der Bahn. Daher habe ich mich dazu entschieden, nach Griechenland zurückzukehren. Um das Land als junge Generation wieder voranzubringen, indem ich hier etwas aufbaue.«

Nach seinem Militärdienst eröffnete er in Thessaloniki fünf Videotheken. Wegen der starken Konkurrenz konnte er von 1997 bis zur Geschäftsaufgabe im Sommer 2011 nie die Preise erhöhen. »Es gab zu dieser Zeit einen blinden Wettbewerb, an dem ich eigentlich nicht teilnehmen wollte.« Zeitgleich stiegen die Energiekosten und Löhne aber konstant an. Heute ist der 50-Jährige davon überzeugt, sich übernommen zu haben. Jannis war fünf gleichberechtigten Teilhabern vorangestellt. Im Jahr 2004 kam es zu ersten Problemen in seinem Unternehmen, als einer von ihnen ausstieg und ihm eine Abfindung gezahlt werden musste. Durch den Beginn der Krise und aufgrund der wachsenden Konkurrenz durch kostenlose Filmangebote aus dem Internet verringerten sich die Einnahmen. Angesichts der Schwierigkeiten stiegen auch die übrigen Geschäftspartner nach und nach aus und ließen sich ihr investiertes Kapital von seinem privaten Vermögen ausbezahlen. Jannis führte das Geschäft allein weiter, musste dafür aber hohe Schulden aufnehmen.

Nach seiner Scheidung im Jahr 2008 verließ er das gemeinsame Haus und wohnte zunächst bei verschiedenen Freunden. Als die finanziellen Schwierigkeiten sich weiter verschärften, kehrte er im folgenden Jahr zu seiner Mutter zurück.

Im Sommer 2011 fasste er den Entschluss, seine letzte Filiale zu schließen und Insolvenz anzumelden. »Ich konnte nicht mehr.« Auf dem Weg zum Rechtsanwalt erlitt er einen Zusammenbruch. »Ich erkrankte schwer und leide noch immer darunter. Doch geht es mir nicht allein so: Es gibt Tausende, die durch die Krise krank oder obdachlos geworden sind. Wäre das nicht Griechenland, gäbe es noch mehr Obdachlose. Aber hier werden diejenigen, die scheitern, in den meisten Fällen von ihren Familien aufgefangen. In meinem Fall war es meine Mutter, die mich wieder aufgenommen hat. Es gibt hier viele Wege, sich gegenseitig zu helfen. Auch, um über die Probleme hinwegzutäuschen und sein Gesicht nicht zu verlieren.«

In seinem Elternhaus zu leben stört Jannis weniger als die Tatsache, dass es nicht genug Platz für ihn gibt. Die Einrichtung und Dekoration stammt ausschließlich von seiner Mutter, und er respektiert das. Auch wenn die von ihr aufgestellten Hochzeitsbilder ihn an seine gescheiterte Ehe erinnern. Seine persönlichen Sachen sind hauptsächlich auf Kisten verteilt und in einem Gartenschuppen untergebracht. Seine Kleidung stapelt er in einer Ecke des Zimmers. »Die wenigsten meiner Bekannten haben schon gesehen, wie ich wohne.« Im Alltag unterstützt er seine Mutter und kümmert sich um ihre ärztliche Versorgung. »Mit meiner Mutter zu leben ist zunächst nicht tragisch. Es hat auch etwas Emotionales. Schwierig für mich ist vor allem die Tatsache, dass ich zwei Kinder im Alter von 18 und 20 Jahren habe, für die ich nicht sorgen kann. Mein Vater sagte uns früher: ›Streckt eure Beine nur so weit aus, wie eure Decke reicht.‹ Das bedeutet, tu nur so viel, wie in deinen Möglichkeiten steht, und verschulde dich nicht. Es geht um die Dämonen, die dich jagen.«


Alexia

Alexia lebt seit dem Frühjahr 2012 wieder bei ihren Eltern in Veria, einer Stadt etwa 80 Kilometer von Thessaloniki entfernt. Dort ist sie aufgewachsen und zur Schule gegangen, bevor sie einen Studienplatz in Thessaloniki erhielt. »Aber auch die ersten zweieinhalb Jahre meines Studiums bin ich die Strecke aus wirtschaftlichen Gründen noch gependelt.« Erst danach zog sie gemeinsam mit ihrem Freund in ihre eigenen vier Wände. »Meine Wohnung hat mir sehr gut gefallen, sie hat zu mir gepasst. Sie war in einem dieser Häuser im alten Stil. Mit hohen Räumen, die wir mit viel Schlichtheit so umgewandelt haben, dass es uns gefiel. Ich mag es nicht, wenn es zu voll ist. Ich habe vorher auf kleinem Raum mit zu vielen Dingen gelebt und fand das sehr anstrengend. Dinge sind nur Verpflichtung.« Da der Unterrichtsteil ihres Stu­diums vor etwa einem Jahr abgeschlossen war und sie nur noch ihre Diplomarbeit schreiben musste, entschied sie sich, dies aus der Entfernung zu tun. Sie konnte ihre Wohnung nie komplett selber zahlen und wollte daher nicht, dass ihr jemand über diesen Zeitraum die Miete finanzierte. »Es war schmerzhaft, als wir ausgezogen sind. Das war nicht angenehm. Aber jetzt kommt etwas Neues.«

Die Anschaffungen für ihre Wohnung haben sie bei der Auflösung verschenkt. Aus Platzmangel und da es Alexia nicht gefällt, Dinge zu lagern. Ihrer Meinung nach verlieren diese den Grund, weshalb sie existieren. Weil sie dann unbeweglich seien, während jemand anderes sie vielleicht gebrauchen könne.

Im letzten Sommer hat Alexia ihr Studium abgeschlossen und ihr Diplom erhalten. Jetzt arbeitet sie als Theaterpädagogin an einer Grundschule. »Eine Stunde pro Woche, das ist nicht viel. Hier in Griechenland wird meine Tätigkeit von den meisten leider noch als überflüssig angesehen.« Trotz eines regelmäßigen Einkommens wohnt sie wieder bei ihren Eltern. Zum einen, da das Geld nicht ausreichen würde, um eine eigene Wohnung zu finanzieren, zum anderen, weil sie das Land bald verlassen wird. »Ich habe im letzten Sommer nach Abschluss meines Studiums geheiratet. Gemeinsam mit meinem Mann könnte ich mir die Miete vielleicht leisten. Wir wollen aber nach Kanada auswandern und bringen daher für diese kurze Zeit noch etwas Geduld auf. Wir versuchen, nicht unnötig Geld auszugeben, um dort für eine gemeinsame Wohnung richtig investieren zu können.« Bis dahin wohnt auch ihr Mann wieder bei seinen Eltern. Seit September bereitet Alexia ihre Auswanderung vor, das Verfahren ist allerdings schwieriger als erwartet. »Ich besitze zwar die kanadische Staatsangehörigkeit, da meine Mutter Kanadierin ist. Es gibt aber Probleme mit dem Visum für meinen Mann. Er ist kein Grieche, am Ende aber könnte das für uns sogar von Vorteil sein. Wegen der Krise sind schon sehr viele Griechen nach Kanada ausgewandert, und ich habe den Eindruck, sie wollen dort nicht mehr so viele.« Im Frühling will sie das Land endgültig verlassen. »Das ist bald, schon sehr bald. Ich sehne mich nach einer Umgebung, in der ich das Gefühl habe, respektiert zu werden. Ich liebe Griechenland sehr, aber ich weiß auch nicht, irgendetwas läuft hier schief. Kann auch sein, dass das etwas mit mir zu tun hat.« Alexia würde auch unabhängig von der Krise auswandern, »das war von klein auf mein Wunsch«.

Das Jahr bei ihren Eltern ist für die 26-Jährige vor allem Wartezeit und Übergang. Ihre Selbstständigkeit sieht sie dadurch nicht in Gefahr. »Unabhängigkeit hängt nicht damit zusammen, wo man sich gerade befindet. Obwohl ich früher allein gelebt habe und jetzt wieder bei meinen Eltern bin, fühle ich mich heute noch unabhängiger. Da ich über manche Dinge mehr nachgedacht und mich entschieden habe, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. In allen Lebensbereichen, nicht nur dem wirtschaftlichen. Es kann sein, dass ich seit der Rückkehr in mein Elternhaus wieder ein wenig die Rolle des Kindes angenommen habe. Aber eigentlich passt das nicht zu mir, das brauche und will ich nicht. Und ich glaube auch nicht, dass es guttut. Ich würde nicht sagen, dass ich jetzt besonders umsorgt werde. Ich war nie ein sehr verwöhntes Kind.« Sie ist dankbar für die Hilfe und Unterstützung ihrer Eltern. Besonders ihre Mutter hat sich sehr gefreut, ihre Tochter wieder um sich zu haben. »Mein Vater weniger. So ist sein Charakter, so bin ich aufgewachsen. Für ihn bedeuten wir Kinder eine Verantwortung, die er nicht erneut übernehmen wollte. Und so ist auch jetzt er derjenige, der mich motiviert, mein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Er setzt mich auf seine Art unter Druck, und das ist nicht so angenehm. Aber es hat auch sein Gutes, es bringt mich voran. Über die Entfernung hatten wir allerdings ein viel besseres Verhältnis.« Generell versucht Alexia, Rücksicht auf ihre Eltern zu nehmen und sich an deren Rhythmus anzupassen. Dadurch hat sich ihr Privatleben verändert. Sie lädt ihre Freunde nicht mehr zu sich nach Hause ein und muss sich an die Regeln ihrer Eltern halten, um Streitigkeiten zu vermeiden. »Es gab in meiner Kindheit beispielsweise die Regel, jeden Morgen zu putzen. Seit ich wieder bei meinen Eltern lebe, bereite ich aber morgens vor der Schule den Unterricht vor. Ich mache also zu einer anderen Tageszeit sauber, auf meinen Vater wirkt das jedoch, als würde ich mich vor der Arbeit drücken. Da kann man nichts machen. Jeder versucht, den anderen nicht zu stören. Es gibt aber auch Grenzen und Regeln, die jeder von uns aufstellt.«

Alexia hat kein Problem damit, von ihrer aktuellen Wohnsituation zu erzählen. »Ich glaube, es gibt Menschen, die finden es seltsam, dass ich noch zu Hause lebe. Besonders interessant daran ist vor allem, dass ich ja bereits verheiratet bin. Mich interessiert es aber sowieso nicht, welche klischeehaften Lebensmodelle andere haben. Ich sehe das als eine vorübergehende Phase an.«

Ohne ihre Auswanderungspläne hätte Alexia ihrer Meinung nach zu diesem Zeitpunkt bereits einen Weg gefunden, eine eigene Wohnung zu finanzieren. »Vielleicht hier in Thessaloniki, denn Thessaloniki ist toll. Diese Stadt ist einzigartig.«

(Bei Alexia fotografierten wir nicht, da ihre Eltern damit nicht einverstanden waren.)


Xenia Fastnacht ist Viertelgriechin. Anfang des Jahres flog sie gemeinsam mit Anna Cairns für diese Reportage in ihre Geburtsstadt Thessaloniki. Beide studieren Kommunikationsdesign an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.








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