Bauwelt

Die weißen Elefanten von Rio

Text: Töns, Ole, Berlin

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Neben dem geplanten Olympia-Park liegt das Dorf Vila Autódromo. Im Hintergrund die Luxuswohnanlagen an
der Avenida das Américas zwischen See und Atlantik.
Foto: Ole Töns

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Neben dem geplanten Olympia-Park liegt das Dorf Vila Autódromo. Im Hintergrund die Luxuswohnanlagen an
der Avenida das Américas zwischen See und Atlantik.

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Ein Schwimmstadion und eine Sportarena befinden sich bereits auf dem Areal des Olympia-Parks.
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Ein Schwimmstadion und eine Sportarena befinden sich bereits auf dem Areal des Olympia-Parks.

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Die verspielte Visualisierung des Olympia-Parks 2016 lässt die Umgebung im Dunkeln.
Rendering: AECOM

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Die verspielte Visualisierung des Olympia-Parks 2016 lässt die Umgebung im Dunkeln.

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Die weißen Elefanten von Rio

Text: Töns, Ole, Berlin

Während der Olympischen Spiele 2016 werden Bilder von weißen Stränden und vom Zuckerhut die Medien bestimmen – wie immer, wenn es um Rio de Janeiro geht. Der Hauptaustragungsort der Spiele liegt am Lagoa de Jacarepaguerná im Stadtteil Barra da Tijuca, fernab vom Stadtzentrum.
Er hat nichts mit dem Bild der belebten Strandpromenaden von Copacabana oder Ipanema zu tun. Unser Autor machte sich auf den Weg dorthin und entdeckte dabei Vila Autódromo, ein bescheidenes Wohn­quartier, das es eigentlich längst nicht mehr geben sollte.

„Es gibt schon viele solcher Orte hier: die Stadt der Musik, den Park der Olympischen Spiele, nicht zu vergessen die Stadt der Panamerikanischen Spiele“, meint der junge Mann im Neonlicht einer kleinen Nachbarschaftsbar lachend und setzt nach: „Alles weiße Elefanten“. João ist Sportstudent. „Weißer Elefant“ bedeutet hierzulande soviel wie kostspieliger Spleen, etwas ungemein teures, das zu nichts nütze ist.
Ende Oktober, am Rande einer Ausfallstraße im äußer­sten Westen von Rio de Janeiro. Es war nicht einfach, hier, neben dem dahinjagenden Verkehr, überhaupt jemanden zu finden, der Auskunft geben kann. Links der Autopiste das abgeschottete, mehrere Hektar große Baugebiet, rechts die Mauern und Zäune geschlossener Wohnanlagen, Appartementtürme in Grünanlagen mit Pools in allen erdenklichen Formen. Kein Fußgänger, nirgends. Wer sich hier fortbewegt, fährt von Tiefgarage zu Tiefgarage.
Soviel immerhin ließ sich vor der Fahrt hier raus in Erfahrung bringen: Auf der anderen Seite der Mauer des Bau­gebiets soll in knapp drei Jahren ein Großteil der Wettkämpfe der Olympischen Sommerspiele stattfinden. Früher befand sich dort eine Autorennstrecke, das Autódromo Internacional Nelson Piquet. Jetzt entsteht auf dem Areal der „Parque Olimpico“. Der Olympia-Park in Rios westlichstem Siedlungsgebiet Barra da Tijuca ist das Herzstück der insgesamt vier großen über das Stadtgebiet verteilten Wettkampfstätten.
Vom Dach eines benachbarten Wohnhochhauses überblickt man ein fast gleichschenklig dreieckiges Brachland aus rotbraunem, aufgerissenem Erdreich, das mit der Spitze etwa ei­nen Kilometer weit in den dahinter liegenden See (Lagoa de Jacarepaguá) ragt. Das Wasser des Sees ist nach Auskunft des staatlichen Umweltinstituts INEA unter anderem mit Fäkalien stark belastet. Auf dem Baugelände stehen zwei kleinere, augenscheinlich fertige Sportbauten. Sie wirken verloren auf dem sonst leeren Gelände.
Fast eine Stunde hat allein die Anfahrt hierher gedauert. Es ging los in der Südzone von Rio mit ihren berühmten Strandvierteln Copacabana, Ipanema und Leblon, den wichtigsten touristischen Zentren, wo heute die meisten großen Hotels liegen. Über dreißig Kilometer führt der Weg von dort an der Küste entlang durch mehrere Tunnels auf sechsspu­rigen Ausfallstraßen westwärts. Links und rechts der Fenster ziehen Wohntürme und Shopping-Center vorbei.
Auch in Barra da Tijuca gibt es endlose Strände, an denen allerdings vorwiegend von Mauern und Zäunen umgebene Wohnanlagen liegen. Zum Olympia-Park geht es mehrere Kilometer landeinwärts. Die Hauptdurchgangsstraße begleiten flache Gewässer mit Mangrovengebüsch. Hier und da kleine Areale mit teuer aussehenden Ufervillen, am Horizont steiles Gebirge. Ansonsten weites Land und schnell fahrende Autos auf breiten Magistralen. Mir stellt sich die Frage: Warum Olympische Spiele in Rio de Janeiro so weit draußen? Warum so weit weg von all dem, was die Welt mit der Stadt verbindet?
Die Zukunft im Westen
Wer dazu bei der Stadtverwaltung nachfragt, erhält folgende Begründungen: Das Land hier draußen sei Eigentum der Stadt und daher ohne weitere Investitionen verfügbar gewesen. Zu­dem sei Barra de Tijuca das natürliche Expansionsgebiet Rios. Hier gebe es unbebaute Flächen, anders als in der dicht be­siedelten Südzone. Außerdem sollen neuartige Schnellbusse mit Sondervorfahrt den Olympia-Park mit anderen Stadtteilen, olympischen Einrichtungen und dem Flughafen verbinden. Die Stadtverwaltung unterstütze die Ansiedlung neuer Hotels – zusätzliche 15.000 Zimmer sind geplant.
Tatsächlich kann, wer die Fahrt zwischen den Innenstadtbezirken und Barra da Tijuca unternimmt, Beeindruckendes er­leben: Gelenkbusse rauschen bereits heute auf extra ausgewiesenen Fahrspuren der sechsspurigen Avenida das Américas, der zentralen Verkehrsader, am Stau vorbei. Früher hatten endlose Autoschlangen auch den öffentlichen Verkehr lahmgelegt. Auf zahlreichen Baustellen entlang des Weges wird emsig an Straßenverbreiterungen gearbeitet.
Doch kann auch die beste Verkehrsanbindung nichts da­ran ändern, dass der Umgebung des Olympia-Parks etwas fehlt, was für viele den Reiz der berühmten Stadtviertel von Rio ausmacht. Was diesen Vierteln zu Ruhm verhalf, waren ja nicht zuletzt die Strandpromenaden, die Läden, Bars, Restaurants, die belebten Straßen.
Die Pläne, die das Londoner Planungs- und Projektentwicklungsbüro AECOM zeichnete, lassen sich dann auch als städtebauliches Plädoyer für etwas lesen, das dem Umfeld des Olympia-Parks gänzlich abgeht. Zentrales Element des Entwurfs ist eine geschlängelte, farbenfrohe „Flaniermeile“, die etwa ein Dutzend Sportarenen miteinander verbindet. Sie führt vom Parkeingang an der Landseite der dreieckigen Halbinsel zu einem Festplatz auf der in den See ragenden Spitze.
„Diese Schlangenlinie ist die ideale Verbindung zwischen den Sportstätten. Diese Form findet sich auch in Entwürfen des Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx, etwa im berühmten Pflastersteinmosaik der Copacabana. Die Menschen in Rio lieben es, dort ihre Freizeit zu verbringen und Sport zu treiben. Wir haben bewusst ein Element gewählt, dass sie mit diesen Aktivitäten in Verbindung bringen“, erklärt Petar Vrcibradic, Koordinator der Architekturabteilung von AECOM in Rio de Janeiro.
Doch zurück in die Gegenwart, in den rasenden Verkehr auf der Avenida das Américas, der sechsspurigen Magistrale von Barra da Tijuca. Ich bin erst auf halbem Weg zum Parque Olimpico. Etwa sieben Kilometer verläuft die Straße fast geradeaus. Dann erreiche ich eine Art Riesenkreisverkehr. Sein Durchmesser misst fast einen halben Kilometer.
Zwischenstopp „Stadt der Künste“
Die gewaltige Verkehrsinsel ist Standort des umstrittensten Architekturprojekts der Stadt der letzten Zeit, der Cidade das Artes – der Stadt der Künste des französischen Pritzkerpreis­trägers Christian de Portzamparc. Über zehn Jahre Bauzeit hat der gigantischen Kulturkomplex bis zur Einweihung Anfang 2013 gebraucht. Die Kosten von rund 600 Millionen brasi­lianischen Reais sollen die ursprünglich veranschlagte Bausumme etwa um das Siebenfache übersteigen. Jahrelang stand dieser weiße Elefant als bizarre Investitionsruine in der Landschaft, ohne dass erkennbar daran gearbeitet wurde.
Geplant noch als Stadt der Musik unter der Ägide des bis 2009 amtierenden Bürgermeisters César Maia, sollte hier der neue Sitz des Orquestra Sinfonica Brasileira entstehen, das bisher im Stadtzentrum zuhause war. Bei der Eröffnung firmierte der Bau dann als „Stadt der Künste“. Das Brasilianische Sinfonieorchester gibt noch immer das altehrwürdige Teatro Municipal im Zentrum als Adresse an. Bei der Pressestelle heißt es, es sei schwierig, unter der neuen Stadtregierung und dem jetzigen Bürgermeister Eduardo Paes jemanden zu finden, der sich offiziell zu dem Projekt äußert.
Von der Avenida das Américas aus ist schon von Weitem ein grauer Quader am Horizont zu erkennen, der beim Näherkommen schnell zu wuchtiger Größe anwächst. Fast zweihundert Meter misst die Längsseite des Gebäudes. Über dreißig Me­ter hoch liegt die leicht geneigte Dachfläche auf einem unregelmäßigen Formenensemble aus hellgrauem Sichtbeton. Schnellstraßen ohne Fußgängerüberwege riegeln den Komplex von allen Seiten hermetisch ab.
„Zugang Cidade das Artes“, vermeldet ein gelbes Hinweisschild für Autofahrer. Dann geht es über schmale Stra­-ßen zu den Parkplätzen im menschenleeren Niemandsland am Fuß des Gebäudemassivs. Geschwungene Rampen, Freitreppen, ein Fahrstuhl und eine Rolltreppe führen zur Haupt­ebene in zehn Meter Höhe.
Auf der Plattform entfaltet diese Stadt der Künste ihren Reiz. Man ist eingenommen vom Formentheater der kühn geschwungenen Gebäudeelemente und dem Blick auf die umgebende Hochhaus- und Straßenlandschaft. Zwischen den freistehenden Baukörpern der verschiedenen Säle tut sich auf der Plattform ein weiträumiges Atrium auf. All das wirkt wie die Einladung an ein vielfältiges urbanes Publikum, das die städtische Umgebung auf dieser Verkehrsinsel gerade ausschließt.
Auch ein Kinosaal sei vorgesehen, wie einer der Wächter freundlich erklärt, die hier derzeit etwas verloren ihre Run­-den drehen. Die Größe des Entwurfs soll Portzamparc einmal damit begründet haben, dass der Bau gegen den Mega-Supermarkt Carrefour auf der anderen Straßenseite nicht klein wirken sollte. Tatsächlich lässt sich jetzt von hier oben auf den Konsumtempel herabschauen. Allerdings wimmelt es dort unten von Menschen, während hier oben gähnende Leere herrscht.
Infrastruktur für die Wohlhabenden
Die Stadt der Künste hat nicht nur wegen der enormen Überschreitung der veranschlagten Kosten den Verdacht auf Korruption geweckt. Schon vor dem Bau fragte etwa der renommierte Stadtplaner Flavio Villaca empört, wie man den Sitz des wichtigsten Sinfonieorchesters „ins Exil“ verlegen könne und dann noch nach Barra da Tijuca, wo es 90 Prozent der Bevölkerung Rios den Rücken zukehre. Furios kritisiert Villaca, dass hier enorme Summen öffentlichen Geldes in ein abgelegenes Stadtgebiet für Begüterte mit ihren Autos fließen würden, während ärmere Stadtteile und deren notorisch unter­finanzierter öffentlicher Nahverkehr das Nachsehen hätten. Dass es einflussreiche Gruppen gibt, die großes Interesse an einer Aufwertung von Barra da Tijuca haben, liegt nahe: Das Areal für die Olympischen Spiele wird in öffentlich-privater Partnerschaft bebaut, wobei die Stadt unter anderem Grund und Boden im Wert von 850 Millionen Reais einbringt. Ein privates Konsortium aus den brasilianischen Großkonzernen Odebrecht und Andrade Gutierrez sowie dem Immobilienunternehmen Carvalho Hosken übernimmt dafür den Bau der Infrastruktur und eines Großteils der Gebäude.
Sind die Spiele vorbei, bleiben die Anlagen in privater Hand. Sie sollen zu Wohngebieten umgebaut und teilweise verkauft werden (Pläne der Umwandlung bis 2030 auf den Seiten 18 und 19). Die verbesserte Verkehrsanbindung dieser West- zone von Rio lässt die Preise schon jetzt steigen. Carvalho Hosken gilt im Übrigen als größter Immobilienbesitzer in der Zone und soll über etwa zehn Quadratkilometer Baufläche verfügen, darunter auch das Gelände für das Olympische Dorf.
Rios Stadträume
Die Tragweite des Mega-Projekts wird erst vor dem Hintergrund der sozialen Topografie deutlich. Die Bewohner Rios teilen ihre Stadt in Nord-, Süd- und Westzone ein, im Osten des Zentrums liegt die Guanabarabucht. Jede Zone ist mit einem sozialen Status verbunden, der allen vollkommen geläufig ist.
Als vorwiegend arm gelten vor allem die so genannte Nordzone und die angrenzende Baixada Fluminense, eine gewaltige, dicht besiedelte Fläche. Sie wird weitgehend von Zuwanderern aus dem ländlichen Nordosten des Landes bewohnt. In den Hochphasen der Industrialisierung bis in die 70er Jahre wucherte Rio hier weit über seine Stadtgrenzen hin­aus, überstürzt, unkoordiniert, oft per Landnahme und ohne Infrastruktur. Kanalisation fehlt vielerorts bis heute.
Besucher können derzeit, wenn sie vom internationalen Flughafen kommen, einen Blick über das schier unendlich scheinende Meer dicht an dicht ineinander geschachtelter Gebäude und Hütten erhaschen. Im Zuge der Fußball-WM- und Olympia-Vorbereitungen wurde der Blick von den Zufahrtsstraßen aus durch so genannte Lärmschutzwände häufig verbaut. Die Siedlungsgebiete im Norden der Stadt, in denen es auch Areale der Mittelschicht gibt, gelten als von der öffentlichen Verwaltung deutlich benachteiligt. Oft herrscht ein Mangel an Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, es fehlen Schulen, öffentliche Einrichtungen werden nicht genügend Instand gehalten, die Müllentsorgung funktioniert nur unzureichend und die Verkehrsanbindungen reichen nicht aus.
Dabei arbeiten die meisten Bewohner dieses flächenmäßig größten, zusammenhängenden Teils des Ballungsraums im Zentrum sowie den wohlhabenderen, südwestlich davon gelegenen Bezirken. Viele sind auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Die meisten Kinder gehen auf die finanziell schlecht ausgestatteten öffentlichen Schulen. Privatschulen, die in der Regel den Zugang zu besseren Universitäten sichern, sind für viele unbezahlbar. Nicht zufällig gab eine Anhebung der Buspreise den Anstoß zu den gewaltigen Demonstrationen, die Mitte dieses Jahres in Brasilien Millionen Menschen auf die Straßen trieben. Ihre Forderungen waren erstaunlich einhellig: besserer öffentlicher Nahverkehr, bessere Gesundheitsversorgung, bessere Schulen statt neue Sportstadien, die Millionen öffentlicher Mittel in die Taschen weniger spülen.
Unterdessen ist auch die so genannte Südzone mit ihren berühmten Vierteln Copacabana und Ipanema gewachsen. Vor allem wohlhabendere Einwohner zogen an die Atlantikstrände. Der Ausdehnung dieser Wohngebiete waren allerdings Grenzen gesetzt. Keinen Kilometer landeinwärts erheben sich steile Höhenzüge, an deren Hängen vor allem Zuwanderer aus dem Nordosten Brasiliens in Favelas leben. Die berühmten Promenaden und Strände der Südzone gelten auch wegen dieser räumlichen Nähe von Arm und Reich in der mitunter et-was romantisierten Selbstwahrnehmung der Stadt als Orte, wo sich im Prinzip alle Bewohner Rios begegnen können.
Bis in die 70er Jahre hinein war die Ausbreitung der Me­tropole im Westen durch ein steil zum Meer hin abfallendes Felsmassiv begrenzt. Erst nach dem Bau mehrerer Tunnel konnte die Stadt sich in der dahinter liegenden weitläufigen Lagunen- und Sumpflandschaft ausdehnen. Hier breitete sich seit den 80er, vor allem aber in den 90er Jahren fast explosionsartig der neue Stadtteil Barra di Tijuca aus – und damit eine in Rio bis dahin fast unbekannte Wohnform: umzäunte und streng bewachte Siedlungen, meist Konglomerate größerer Wohngebäude mit Freizeitanlagen und allem erdenklichen Luxus-Service. Was bisher öffentlicher Stadtraum war, ist nun streng bewacht und hinter Gittern einer exklusiven Gruppe von Bewohnern vorbehalten. Städtische Öffentlichkeit findet nicht mehr statt – allenfalls noch in entsprechend großen Shopping-Centern mit einem überdachten Rondell, das von Schnellrestaurants umgeben ist.
Vila Autódromo – Das Dorf dazwischen
Während ich weiter zum Olympia-Park fahre, verändert die Umgebung allmählich ihr Gesicht. Baulücken tun sich auf, Brachflächen, unvermittelt säumt wucherndes Grün den Straßenrand, dann ein fast zugewachsener Wasserlauf wie im Urwald. Ein Straßenschild im Niemandsland weist noch den Abzweig zur Autorennstrecke. Plötzlich ein Dutzend vollkommen gleichförmiger Wohntürme im Nichts, dazwischen menschenleere Parkanlagen. Etwas später ziehen noch ein paar unfertige Bürokästen vorbei. Ein großes Schild, wirbt in dramatischer Aufmachung für „One World Offices“.
Ganz am Ende der Straße taucht ein niedriger, nur teilweise verputzter Bau auf, der nicht in diese Umgebung passt. „Gipsarbeiten und Trockenbau“ steht auf einem Schild. Inzwischen dämmert es. Aus einem offenen Garagentor dringt Licht, Menschen sind zu erkennen, viele Kinder. „Da den Weg rein, ein paar hundert Meter zur Anwohnervereinigung“, rät eine junge Frau auf die Frage, wer hier etwas zum künftigen Olympia-Park sagen könne. Die staubige Piste führt zwischen den hohen Mauern und hingewürfelten kleinen Schachtelbauten in verschiedensten Formen und Größen entlang. Menschen laufen durchs Halbdunkel, weiter vorne wird es heller, Musik ist zu hören, Kindergeschrei und Hundegebell – ich werde freundlich begrüßt.
„Uns gibt es hier schon seit den siebziger Jahren. Das hier war mal ein Dorf, mitten in den Mangroven. Die Fischer sind mit dem Kanu auf den See raus gefahren“, erzählt eine kleine energische Frau mit grauen Locken. Inalva heißt sie, spricht für die Bewohnervereinigung von Vila Autódromo. So nennt sich das dichtgedrängte Häuser- und Hüttengewirr, das sich ganz im Westen des Olympia-Geländes zwischen Ummauerung und zwei Schnellstraßen duckt. Eigentlich sollten die Bewohner längst in ein Neubauprojekt umgesiedelt werden. „Es waren Behördenvertreter hier die gedroht haben, dass, wer nicht einwilligt, alles verliert“, erzählt Inalva. Doch die Mehrheit will hier nicht weg. Sie fürchten, ihre Nachbarschaft zu verlieren, die eigenen, nach ihren Bedürfnissen gebauten Häuser mit denen sie viele Erinnerungen verbinden, das enge Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen, alles, worin sie sich eingerichtet haben, was ihr Leben ausmacht und das Überleben sichert. „Viele hier betreiben kleine Geschäfte oder produzieren etwas, um es draußen zu verkaufen“, sagt Inalva. „Auch in der Umgebung lässt sich Geld verdienen, auf den Baustellen zum Beispiel. Und wir haben keinen Drogenhandel, keine Milizen oder Kriminalität, wie in anderen Favelas. Warum all das aufgeben?“
Nicht weit von hier hat sich bereits gezeigt, dass die Probleme in anonymen Neubausiedlungen, in den die dann entwurzelten Menschen wohnen, erst richtig anfangen können. Die Cidade de Deus, ein Umsiedlungsprojekt, berühmt durch den gleichnamigen Film, liegt kaum zehn Kilometer landeinwärts.
In Vila Autódromo haben sich die widerständigen Bewohner inzwischen organisiert. Kürzlich legten sie Rios Bürgermeister sogar einen alternativen Entwicklungsplan für ihre Siedlung vor, der die Ärmlichkeit, die Investoren und Stadtverwaltung offenbar stört, auf andere Weise beheben könnte. Die Vorschläge sind einfach und sollen nur einen Bruchteil dessen kosten, was für die geplanten Neubausiedlung kalkuliert wird: bessere Versorgung, dazu Asphalt auf den Gassen des Viertels. Der Bürgermeister hat vor Zeugen seinen Willen zum Dialog erklärt. „Sie sprechen von Dialog“, sagt Inalva an diesem Abend in der Nachbarschaftsbar, „aber sie arbeiten nicht mit uns zusammen. Sie versuchen, unsere Gemeinschaft allmählich zu spalten.“ Aber offenbar ist es nicht mehr ganz so einfach, die kleine Initiative zu ignorieren. Was sie fordert, gleicht bis ins Detail dem, was Mitte des Jahres während der großen Demonstrationen auf zahllosen Schildern und Transparenten zu lesen war.
Zwar sind es inzwischen längst nicht mehr Millionen, die täglich auf die Straßen gehen, doch die Ereignisse haben Spuren hinterlassen, Netzwerke zum Beispiel. Vertreter von Vila Autódromo sitzen heute mit anderen Betroffenen in so sogenannten Comites Populares, die gegen das gewaltsame Vorgehen der Stadtregierung im Zusammenhang mit den kommenden Sportereignisse eintreten und davon im Internet berichten. Seit den Demonstrationen gibt es für solche Themen ein aufmerksameres, größeres Publikum.
Als vor einigen Monaten neben Brasiliens berühmtester Fußballarena Maracanã in Rio ein von Vertretern mehrerer indigener Stämme besetztes Museumsgebäude geräumt wurde, waren die Comites Populares eine wichtige Nachrichtenquelle. Brasiliens Ureinwohner mussten ein Quartier verlassen, weil es den Entwicklungsplänen des Stadiongeländes für die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele im Weg war.
„Weiße Elefanten“? Der dreißigjährige Sportstudent João aus Vila Autódromo, der sich an diesem Abend dazugesellt hat, dürfte auf einer der Demonstrationen dabei gewesen sein. Die meisten waren junge Leute, von denen viele studieren. Es wa-ren nicht die Wohlhabenden. João ist wie die Mehrheit auf die öffentlichen Verkehrsmittel, das öffentliche Gesundheitssystem und die staatliche Bildung angewiesen.
Der Probelauf
Dann erzählt João von den großen Wohntürmen hinter dem Brachland. „Das ist Vila do Pan, die Stadt der Panamerikanischen Spiele.“ Gebaut wurde sie mit öffentlichen Geldern für die Sportler jenes Sportereignisses, das 2007 als eine Art Probelauf für die Olympischen Spiele an etwa den gleichen Orten der Stadt ausgetragen wurden. Gleich danach wurde ein Wohngebiet daraus. Heute demonstrieren die Bewohner von Vila do Pan, die ihre Appartements noch im Zuge der Sport­begeisterung gekauft hatten, vorzugsweise bei Werbeveranstaltungen für die Spiele 2016 – denn das Wohngebiet ist auf Sumpfland gebaut. Straßen, Sportplätze und Parks sackten ab, wurden überschwemmt, die Kläranlage ließ lange auf sich warten. Vor einigen Monaten war zu lesen, dass die Stadt über 30 Millionen Reais für die Behebung erster Schäden ausgegeben habe. 

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