Bauwelt

„Den allumfassenden Plan der Moderne gibt es nicht mehr“

Interview mit Fernando de Mello Franco

Text: Thein, Florian, Berlin; Brinkmann, Jens, Berlin

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Weitgefasste Betrachtung: Fototapete der Metropol­region São Paulo im Büro des Stadtbaudirektors
Foto: Florian Thein

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Weitgefasste Betrachtung: Fototapete der Metropol­region São Paulo im Büro des Stadtbaudirektors

Foto: Florian Thein


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Die historische Karte im Vorzimmer der Abteilung Stadtentwicklung zeigt die Besiedlung des Piratininga-Plateaus, die als Ursprung São Paulos gilt
Foto: Florian Thein

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Die historische Karte im Vorzimmer der Abteilung Stadtentwicklung zeigt die Besiedlung des Piratininga-Plateaus, die als Ursprung São Paulos gilt

Foto: Florian Thein


„Den allumfassenden Plan der Moderne gibt es nicht mehr“

Interview mit Fernando de Mello Franco

Text: Thein, Florian, Berlin; Brinkmann, Jens, Berlin

São Paulos Stadtbaudirektor Fernando de Mello Franco zu Strategien im Umgang mit dem städtebaulichen Erbe und der weiteren Entwicklung der größten Stadt Südamerikas.
Er hat sich auf vielen Ebenen mit der Stadt São Paulo auseinandergesetzt – als Partner im Architekturbüro MMBB, als Lehrer an der Universität von São Paulo und an der Harvard Graduate School of Design. Zuletzt war Fernando de Mello Franco Kurator am Forschungsinstitut URBEM und befasste sich mit den Erweiterungsmöglichkeiten des öffentlichen Raums in der postindustriellen Metropole. Seine Doktorarbeit zur strukturgebenden Bedeutung der großen Flüsse São Paulos kann man als Basis für den „Arco do Futuro“ lesen. Der Umsetzung dieses großen Stadtentwicklungsprojekts der nächsten Jahre widmet er sich seit Anfang 2013 als Stadtbaudirektor.

Herr de Mello Franco, inwiefern deckt sich São Paulo mit Ihrer Vorstellung von einer lebenswerten Stadt?
São Paulo ist ein typischer Fall von Hassliebe. Wir alle hassen die Stadt – das Leben hier ist im Alltag sehr hart. Gleichzeitig entwickelt sie durch die große Bandbreite an urbaner Dynamik auch eine starke Anziehungskraft. Wir leben mit einer extremen Bipolarität.
Welche Probleme stellen sich konkret?
Die Probleme beginnen beim morgendlichen Gang zum Bäcker um Brot und Milch für das Frühstück einzukaufen. Um diesen einfachen Vorgang gefahrlos bewältigen zu können, brauchen wir Gehsteige, auf denen man nicht andauernd stolpert und herabhängende Oberleitungen befürchten muss. Es geht also um grundlegende Dinge des Alltäglichen, die wir verbessern müssen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch die großen, weitreichenden Probleme der Stadt – das Verkehrssystem, die Wasserversorgung, die Arbeitslosigkeit, die Anpassung an den Klimawandel und die oft viel zu große räumliche Trennung von Arbeit und Wohnen.
Auf welche Qualitäten können Sie aufbauen?
Es klingt nach einem Klischee, aber es ist die besondere Kraft der Diversität – Brasilien ist ein Einwanderungsland und São Paulo eine kosmopolitische Stadt. Einige Leute behaupten, bei uns könnten sie zum Beispiel Produkte aus unserem Nachbarland Bolivien finden, die es nicht einmal in der dor­tigen Hauptstadt gibt, höchstens irgendwo auf dem flachen Land. São Paulo hat sich extrem schnell entwickelt, innerhalb von einhundert Jahren wurde aus einem Dorf die größte industrialisierte Metropolregion der gesamten Südhalbkugel. Dennoch ist die Stadt nicht so chaotisch, wie man vielleicht meinen könnte, São Paulo weist eine gewisse Ordnung auf. Diese Ordnung mag kompliziert sein, ist aber eine Ordnung – sonst könnten in der Makrometropole Paulista auch nicht 20 Millionen Einwohner leben. Das sind 10 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes, die 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erzeugen. Der damit einhergehende finanzielle Wohlstand bildet natürlich auch eine gute Grundlage für Veränderungen.
Die großen infrastrukturellen Entscheidungen der Vergangenheit waren sehr rigide – alles zielte auf den motorisierten Individualverkehr ab. Wie gehen Sie mit dieser Autostadt um?
Wir müssen die Geschichte der Stadt verstehen. Ja, es stimmt, São Paulo basiert auf dem Auto, dem Individualverkehr. Nach dem Krieg kamen die Amerikaner mit den Ford-Werken und die Deutschen mit den VW-Werken. Es war aber nicht immer so, in der Vergangenheit war die Schiene Grundlage des städtischen Verkehrs, und wir haben immer noch ein gutes Erbe an schienengebundener Struktur innerhalb der Region. Wir müssen sie nur deutlich erneuern und transformieren – und natürlich einen Paradigmenwechsel bei den Bewohnern herbeiführen, Sichtweisen und Einstellungen verändern.
Geht es dabei auch um die generelle Verbesserung innerstädtischer Verbindungen?
Was São Paulo interessant macht, ist die außergewöhnliche Dynamik an ganz verschiedenen Orten. Wir brauchen daher eine bessere Vernetzung zwischen allem, was São Paulo bietet. An einem Ort gibt es Arbeitsplätze, aber niemand wohnt dort, vieles ist räumlich völlig voneinander getrennt – hier müssen wir eine größere Mischung erreichen. Der Aufbau ei­nes weitläufigen Mobilitätsnetzwerks vor allem mit Bahnen und Bussen ist ein großes Aufgabengebiet. Dabei konzentrieren wir uns zunächst auf die Erweiterung der Buslinien, da für die Bahn der Staat zuständig ist. Die drastische Änderung der Infrastrukturachsen bildet die Basis für kleinere Projekte in einzelnen Stadtquartieren.
Wie gehen Sie dabei vor?
Wir haben ein Patchwork vor uns. Diese einzelnen Teile im Stadtgefüge können wir nicht mit einer einzigen, großen Geste miteinander verbinden – den einen, das Ganze umfassenden Plan der Moderne gibt es nicht mehr. Wir gehen systematisch vor und beschäftigen uns zunächst nur mit den Knotenpunkten, den Hubs, die zwischen dem lokalen Maßstab und dem Maßstab der Metropole vermitteln. Diese Hubs sind Punkte, wo man agieren kann, wo auch Architekten und Stadtplaner mit konkreten Projekten eingebunden werden können. Niemand kann die Infrastruktur der Metropole im Gesamten neu entwerfen, aber für einzelne Bereiche ist dies gut möglich.
Wie behält man bei einem Flickenteppich von 100 Kilometer Durchmesser den Überblick?
Wir denken in erster Linie die Flächennutzung der Stadt neu. Es geht hier nicht mehr um große Investitionen als einem möglichen Motor, sondern um die Art der Nutzung, die wir zulassen wollen. Wir arbeiten mit sogenannten Macro-Areas. Jedem spezifischen Gebiet wird auf dem Plan eine eigene Farbe zugeordnet, für jedes haben wir eine Anzahl von Werkzeugen und eine eigene Strategie entwickelt. Grün steht zum Beispiel für eine Umweltschutzzone, die unbedingt als solche erhalten und geschützt werden muss. Die roten Bereiche dagegen stehen für die großen Infrastruktursysteme, vor allem Schienenverkehr und Versorgungsleitungen. Diese liegen im Wesentlichen entlang der Flüsse Tietê und Pinheiros, wo zu Beginn der Industrialisierung große Anlagen und Arbeiterviertel entstanden sind.
Das ist auch die Basis des sogenannten Arco do Futuro, eines bogenförmigen Gebiets, an dessen Infrastruktur sich neue Stadtzentren bilden sollen ...
Genau – in diesem Bereich befinden sich die metropolen und regionalen Verkehrsflüsse und alle großen Infrastruktureinrichtungen wie der internationale Flughafen Guarulhos und die staatliche Universität. Dazwischen liegen orangefarbene Gebiete, die, obwohl sie alle sehr unterschiedlich sind, für stabile Quartiere stehen, die derzeit keiner größeren Maßnahmen bedürfen. Die gelben Flächen dagegen sind gefährdete, verletzliche Gebiete. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Favelas – die Stadt São Paulo besteht zu einem Drittel aus diesen Gebieten. Hier sind neben kleinteiligen Interventionen auch große Maßnahmen nötig. So müssen Bewohner aus besonders prekären und gefährlichen Lagen dringend umgesiedelt werden, um eine sanitäre Grundversorgung zu installieren und hygienische Bedingungen herstellen zu können. Diese Gebiete müssen zur Stadt geöffnet werden. Leider müssen wir für den notwendigen Ausbau der Buslinien auch Behausungen abreißen. Aber wenn es uns nicht gelingt, ein Minimum an gut funktionierender Infrastruktur herzustellen, werden wir nicht in der Lage sein, die grundlegenden Probleme der Quartiere zu lösen.
Eine drastische Maßnahme ...
Diese Schäden sind letztlich produktiv und mit einem unmittelbaren Nutzen verbunden – der öffentliche Raum wird gestärkt. Ergänzt durch neue soziale Einrichtungen und städtisch geförderten Wohnungsbau mit Kleingewerbe, kann es uns hier gelingen, Wohnraum nahe an den Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs zu schaffen und die große Wohnungsnot zu mildern. Ich bin mir sicher, dass dieses Gebiet entlang der Buslinien und Haltestellen, kombiniert mit neuen Arbeitsplatzangeboten, sich am Ende als sehr gute Lage für die Bewohner ohne eigenes Auto herausbilden wird. Leider engagieren sich momentan kaum private Investoren an diesen neuen Achsen. 83 Prozent des Grundstückshandels von São Paulo findet außerhalb statt. Das ist komplett verrückt – hier gibt es Arbeit, die Leute aber leben außerhalb!
Gibt es dafür eine Erklärung?
Ein Journalist nannte das einmal „Metrophobie“. Die Mittelschicht mag es überhaupt nicht, dicht gedrängt aufeinander zu wohnen, auch aus Angst, es zöge ärmere Schichten an. Wir müssen dieses Paradigma ändern, sonst haben wir keine Chance! Heute ist die Zeit reif dafür. Einwohner von São Paulo, die es vorziehen „Metrophobe“ zu bleiben, können dann trotzdem irgendwo innerhalb des Systems etwas entfernter von den Achsen wohnen. „Metropolitaner“ siedeln näher an den Achsen. Wir gehen so vor, dass wir die differenzierende Entwicklung entlang der Achsen fördern und dabei unterschiedliche Möglichkeiten der Flächennutzung anbieten. Für den privaten Grund und Boden, der in öffentlichen Raum verwandelt wird, zahlt die Stadt eine Entschädigung. Wir sehen eine Dichte von 800 bis 1200 Einwohnern pro Hektar vor und weisen besondere Zonen für eine Nachverdichtung aus. Wir wollen weder eine zu geringe Dichte, die die Fläche nicht gut ausnutzt, aber auch keine zu hohe Verdichtung.
Gibt es bei diesen umfassenden Maßnahmen auch eine Art der Bürgerbeteiligung?
Wir haben hier im Amt eine eigene Abteilung, die partizipative Prozesse managt. Sie ist dafür verantwortlich, die Bevölkerung einzubeziehen. Dazu gehören freie Bürgervereinigungen und Gewerkschaften, aber auch jeder einzelne Bürger. Wir haben hier die in Brasilien schon seit längerem bestehenden Beteiligungsformen lediglich weiter institutionalisiert. Bei jedem unserer Prozesse steht die Beteiligung am Anfang. Die Schwierigkeit liegt weniger in der Verhandlungen mit den Bürgern – kompliziert wird es, wenn öffentliche Einrichtungen hinzukommen, also alle staatlichen Ebenen wie Zen­tralregierung, Bundesland und Kommune, aber auch innerhalb der Stadtverwaltung selbst, also diejenigen, die in ihren jeweiligen Ressorts Verantwortung tragen. Wir tragen dafür Sorge, dass jede Strategie eine raumverträgliche Umsetzung erfährt.
Wie sehen Beteiligungsformen konkret aus?
Wir haben zum Beispiel eine Website eingerichtet, eine vir­tu­elle Plattform als Kommunikationskanal mit der Bevölkerung. Und wir haben, das ist wirklich interessant, viel mehr Zugriffe auf die Seite, als Besucher zu öffentlichen Veran­staltungen kommen. Im Durchschnitt sind das 2000 am Tag. Auf dieser Seite ist alles enthalten – der Masterplan, jeder einzelne Maßnahmenplan und die entsprechenden Texte. Je­der kann Zeile für Zeile vergleichen, kommentieren, kritisieren und andere Formulierungen vorschlagen (www.prefeitura.sp.gov.br/cidade/secretarias/desenvolvimento_urbano).
Es gibt auch eine Karte in die die Bewohner selbst etwas eintragen können ...
Richtig. Rot heißt, es gibt ein Problem, grün, es ist gelöst. Ein Beispiel: Ich habe ein großes Loch im Gehweg vor meinem Haus. In dem Forum auf der Seite der Stadt können die Bewohner nun diskutieren, ob eine Pflasterung vorgenommen oder einen Baum gepflanzt werden soll. Sie können den Ort auf der Karte genau lokalisieren und brauchen keine abstrakten Debatten mehr zu führen.
Nimmt São Paulo bezüglich der Stadtentwicklungskonzepte eine Vorreiterrolle in Brasilien ein?
Vorreiter zu sein ist eine große Bürde. Ich denke, wir sollten zunächst unsere Aufgaben so gut wie möglich erledigen. Auch in den anderen großen Metropolen finden sich gute Beispiele. Rio de Janeiro hat außergewöhnliche Erfahrung in der Aufwertung und Konsolidierung von Favelas, von der auch wir profitieren können. Wir haben in Brasilien eine gute Planungstradition bei Architekten, aber wir haben keinen Städtebau als Fachdisziplin. Es gibt nur wenige Experten und spärliche historische Referenzen. Wir müssen dieses Wissensgebiet neu begründen, eine Disziplin, die in der Mitte zwischen dem Entwerfen guter Einzelobjekte und guter Planung liegt.

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