Projektreportage und Interview

Wohnüberbauung Brunnmatt-Ost, Bern Esch Sintzel Architekten

Wohnüberbauung Brunnmatt-Ost

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Backstein reloaded

  • Interview: Katja Hasche
  • Fotos: Frank Peterschröder, Walter Mair

Mit der Wohnbebauung Brunnmatt-Ost in Bern beweisen Esch Sintzel Architekten, dass Wohnen im urbanen Raum trotz Straßenlärms und hoher Dichte nicht nur ein Umgang mit Problemen, sondern etwas durchaus Erstrebenswertes sein kann.

Verdichtung ist in den Schweizer Städten zum Schlagwort geworden. Der Begriff impliziert die Angst vor Verdrängung des Bestehenden, vor hohen und großmaßstäblichen Neubauten. Letztendlich ist Verdichtung jedoch eine Reaktion auf die demographische Entwicklung: Immer mehr Menschen wollen in der Stadt wohnen. In Bern stieß man bei der Suche nach innerstädtischen Brachen auf das Grundstück eines ehemaligen Werkhofs im Brunnmattquartier.

Das Grundstück liegt südlich des Inselspitals, in fußläufiger Distanz zum Bahnhof. Trotz der zentralen Lage vermittelt die Umgebung einen vernachlässigten Eindruck. Der Verkehr hat das Grundstück fest im Griff – die südlich gelegene Schwarztorstraße bringt den Verkehr in die Stadt, die Effingerstrasse führt ihn auf der Nordseite stadtauswärts. Entlang der Effingerstraße begrenzt ein 150 Meter langer Mietskasernenriegel aus den 1930er Jahren das Grundstück. Bauherr dieser Mietszeile war der Berner Baumeister Emil Merz. Sein Enkel Hansmartin Merz kaufte 80 Jahre später das Grundstück des angrenzenden Werkhofs, um die Wohnbebauung Brunnmatt-Ost zu realisieren.

Die Wohnbebauung in Bern fügt sich bescheiden in das Quartier ein und wirkt von Weitem sehr flächig. Erreicht wurde dies, indem das Fugenbild dem hellen Farbton der Ziegel angepasst und weder abgezogen noch verdichtet wurde.

Um eine heterogene Bewohnerstruktur zu schaffen, entwarfen die Architekten 32 verschiedene Grundrisse für insgesamt 95 Wohnungen.

Doch seit den 1930er Jahren hat sich vieles geändert. Eine Blockrandzeile reicht für die gewünschte bauliche Dichte nicht mehr aus. Und die Normalfamilie, auf die man mit einem Standardgrundriss reagieren kann, existiert nicht mehr. Die Architekten Philipp Esch und Stefan Sintzel wollten das Thema der Verdichtung positiv besetzen. Mit dem Bild der Hinterhof-Atmosphäre aus dem Hitchcock-Film „Rear Window“ im Kopf begaben sie sich auf die Suche nach architektonischen Vorbildern – und fanden diese bei einem nicht realisierten Entwurf von Adolf Loos für eine Gruppe von zwanzig Villen, die sich hinter einer durchlaufenden Straßenzeile in den Garten abtreppen. Als weitere Referenz dienten die sogenannten Schlitzhäuser in Hamburg-Harvestehude, die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden und trotz der kurz zuvor in Kraft gesetzten bauhygienischen Reformen eine hohe Dichte generierten. Um für ihre Wohnbebauung Brunnmatt-Ost die richtigen Proportionen zwischen Positiv- und Negativräumen, gebauter Architektur und Außenraum auszuloten, experimentierten Philipp Esch und Stephan Sintzel mit Modellen aus Plastilin.

Entstanden ist eine kammartige Gebäudestruktur mit einer 150 Meter langen glatten Straßenfront und fünf rückwärtigen Flügeln, die sich fühlerartig in den Garten strecken und im Grundriss verjüngen. Während die Straßenfassade mit den vorgesetzten Lisenen eine subtile Plastizität in der Fügung der Backsteine hervorbringt, ist die Gartenfassade zwar volumetrisch stark bewegt, in ihrer Oberfläche jedoch glatt. Die beiden straßenseitig aufgebrochenen Gebäudeecken erinnern an holländische Blockrandbebauungen Anfang des 20. Jahrhunderts. Künftig wird ein Café im Erdgeschoss an der östlichen Ecke den öffentlichen Platz bespielen.

Während die Straßenfassade eine subtile Plastizität in der Fügung der Backsteine hervorbringt, ist die Gartenfassade zwar volumetrisch stark bewegt, in ihrer Oberfläche jedoch glatt.

Wunsch des Bauherrn war eine möglichst heterogene Mieterschaft. Die Architekten entwarfen 95 Wohnungen mit 32 verschiedenen Grundrissen und verschränkten diese neben-, hinter- und übereinander. Von vier Wohnungen, die pro Flügel auf einer Etage angeordnet sind, schaffen es drei, sich wie Pflanzenkeime Richtung Licht zu strecken. Trotzdem können alle Aufenthaltsräume zur Gartenseite hin belüftet werden, wie es der Lärmschutz forderte.

Ende 2013 erhielt die Überbauung Brunnmatt-Ost den Hochparterre-Preis „Hase in Gold“ für den besten Beitrag zur Schweizer Architektur. Ob die Überbauung es auch schafft, ein Impuls für die Quartiersaufwertung zu sein, muss sie noch beweisen. Ein nächster Schritt ist der Abriss der benachbarten Großmetzgerei, die einer weiteren Wohnbebauung weichen soll. Ein Wettbewerb hierfür hat bereits begonnen.

Interview

A uf der Suche nach einem Fassadenmaterial, das sich gut in die Umgebung einpasst, haben Esch Sintzel Architekten zusammen mit Röben einen Backstein entwickelt. Das Ergebnis erinnert an den Berner Sandstein und zeigt deutlich die Spuren seiner Fertigung. Dazu musste der perfektionierte Produktionsablauf wieder vereinfacht werden. Im Gespräch: Philipp Esch und Stephan Sintzel in den Räumen der Wohnüberbauung Brunnmatt-Ost.

Links Philipp Esch, rechts Stephan Sintzel

Philipp Esch, Stephan Sintzel, seit 2008 haben Sie zusammen ein Architekturbüro in Zürich. Wie bewerten Sie die Bedingungen für Architekten und Bauherren in der Schweiz?

Mehr als die Hälfte der Schweizer sind Mieter, so dass die Wertschätzung für den Mietwohnungsbau hoch ist. Im Vergleich zu Deutschland ist der Mietwohnungsbau in der Schweiz eine Sache der Architekten, nicht der Bauträger.

In den letzten Jahren gab es in der Schweiz immer wieder herausragende Beispiele für verdichtetes, urbanes Wohnen in der Stadt. Was waren die größten Herausforderungen bei der Wohnüberbauung Brunnmatt-Ost?

Es gab zwei besondere Herausforderungen – die hohe Dichte, ohne dass man hoch bauen durfte, und die Lärmemissionen der Straße. Diese beiden Parameter haben uns zu der Grundform des Kamms gebracht. Unser Anliegen war es, dass man die Standortprobleme nicht minimiert, sondern dass man diese umpolt und positiv besetzt. Wir wollten mehr über die Privilegien an einer besonnten Straße reden als über das Dichte- und Lärmproblem.

Um den gewünschten Effekt in der Oberfläche zu erreichen, wurden Fehler, die in der heutigen Zeit vermeidbar sind, in der Produktion wieder zugelassen. So entstand ein Ziegel, dem man seinen Fertigungsprozess ansieht.

„Der Robotoer, der die Steine schichtet, bevor sie auf den Brennwagen kommen, hantierte extra grob, so dass die Steine an den bruchfreudigen Kanten schon brachen.”
Philipp Esch
Die Fassade muss bei diesem Gebäude viel leisten. Zur Straße hin überspannt sie eine Länge von rund 150 Metern, zum Garten gibt es viele Abstufungen im Gebäudevolumen. Was waren Ihre Grundgedanken bezüglich der Fassadengestaltung?

Im Auftreten gegenüber dem städtischen Raum war uns wichtig, dass die Straßenfassade der Straße mindestens so sehr wie dem Haus dahinter gehört. Sie ist sehr stark für den Straßenraum entwickelt worden, während auf der Hofseite die Gemengelage von großen und kleinen Räumen, von Badezimmern und Wohnräumen in der Fassade abgebildet ist.

Links: Stephan Sintzel im Gespräch
Rechts: Philipp Esch im Gespräch

Zu welchem Zeitpunkt haben Sie sich für das Fassadenmaterial Backstein entschieden?

Das war eigentlich schon im Wettbewerb klar. Wir haben damals ein Material gesucht, das an dieser lärmigen Situation schön altert und mit den Ablagerungen des Verkehrs Würde behält. Zudem macht die Fügung der Wohnhäuser, das Verschränken der Wohnungen im Großen dasselbe wie der Backstein im Kleinen. Wir haben versucht, das Thema der Fügung, das schon in der Struktur des Hauses angelegt ist, in der Fügung der Fassade fortzuführen. Hinzu kam, dass der Bauherr sehr großen Wert auf Langlebigkeit legt. Hansmartin Merz ist ein Bauherr, der für seine Enkel baut – genauso wie sein Großvater für ihn den Boden bereitet hat mit der Wohnüberbauung, die gegenüber liegt.

Gab es statische Herausforderungen in Bezug auf das Sichtmauerwerk?

Der Röben-Planungsservice wurde bereits früh in den Prozess eingebunden und hat die Konstruktion der Fassade maßgeblich mitgeprägt. Die Fassade ist dann mit zunehmender konstruktiver Durcharbeitung immer klassischer geworden. Im Laufe des Entwurfs und der konstruktiven Entwicklung haben wir immer mehr Wert darauf gelegt, dass die zweite, äußere Schale sich mindestens selber trägt. Das hat dazu geführt, dass in gewissen Bereichen – wie bei den Loggia- Spannweiten an der Straßenseite – große Lasten auftraten. Aus diesem Grund sind die Lisenen entstanden, diese verbreitern die Fläche für die Lastabtragung. Die Lisenenstruktur hat auch noch einen weiteren Hintergedanken, nämlich das Einbinden der Dilatationsfugen, die im Schatten der Vorsprünge verschwinden. So ist das Haus im Bild immer ruhiger geworden, immer einfacher und konsequenter in Bezug auf die statischen Möglichkeiten des Materials Backstein.

„Wir haben damals ein Material gesucht, das an dieser lärmigen Situation schön altert und mit den Ablagerungen des Verkehrs Würde behält.”
Philipp Esch

Auf der Hofseite bilden die Quergebäude eine kammartige Struktur. So wird der Gedanke des Ineinandergreifens der Ziegel auch im städtebaulichen Maßstab fortgesetzt.

Für die Fassade haben Sie 430 000 Backsteine verarbeitet. Warum haben Sie diese extra anfertigen lassen?

Zu Anfang des Entwicklungsprozesses sind wir zu Röben in die Fertigung gefahren und haben Schritt für Schritt Möglichkeiten evaluiert, um den Stein, den wir vor Augen hatten, gemeinsam zu entwickeln. Das Wichtige war einerseits eine helle Farbigkeit, die ins Quartier passt, andererseits sollte der Stein die Spuren seiner Fertigung zeigen. Dazu musste man verschiedene Fehler wieder zulassen, die in der modernen Fertigungsanlage umständlich ausgetrieben worden waren. Das fing damit an, dass die Steine mit dickeren Drähten geschnitten wurden, und dass man die Vorschneiderolle wegließ, die den Stein fasst, bevor er geschnitten wird. Der Roboter, der die Steine schichtet, bevor sie auf den Brennwagen kommen, hantierte extra grob, so dass die Steine an den bruchfreudigen Kanten schon brachen. Wir haben den Ofen schief brennen lassen, das heißt mit verschobener Temperatureinstellung, um unterschiedliche Farbbilder zu erreichen. Außerdem haben wir alte Fließbänder aufziehen lassen, um die Rückseite stärker zu strukturieren. Die Steine zeigen nun mit ihrer Fußseite nach vorne. Es war ein Stück weit ein Blindflug, weil wir keine Musterserien in großer Zahl machen lassen konnten. Aber wir sind mit dem Ergebnis sehr glücklich.

Was für ein Fassadenbild ist entstanden?

Ursprünglich hatten wir im Wettbewerb ein geschlemmtes Mauerwerk vorgesehen, von dem wir aus verschiedenen Gründen abgekommen sind. Wir haben aber immer noch dieses Bild des sehr flächigen Klinkermauerwerks gesucht. Die Korrektheit der Klinkermauern, wie man sie aus den 1980er Jahren mit den verdichteten, vertieften Fugen kennt, war uns ein Greuel. Wir wollten eine flächige Struktur, die erst aus größerer Nähe das Fügungsbild zeichnet. Darum ist die Fuge auch in der Farbigkeit dem Stein angepasst und weder verdichtet noch abgezogen.

Welche Patina wird das Sichtmauerwerk voraussichtlich mit der Zeit entwickeln?

Wir gehen davon aus, dass das Relief mit der Zeit noch stärker hervortritt, weil die bewitterten Stellen immer wieder abgewaschen werden und die unbewitterten Stellen allmählich den Staub sammeln.

Wohnüberbauung Brunnmatt-Ost

Fertigstellung:Herbst 2013
Bauherr:Emil Merz AG, Bern
Bruttogeschossfläche:18.700 m²
Baukosten:46,6 Mio. Schweizer Franken

BRICK-DESIGN® by Röben, Sondersortierung Brunnmatt

Die Idee: Ein Stein, der die authentischen Spuren seiner Fertigung zeigt, ohne den Einsatz künstlicher Strukturmatritzen. Die Umsetzung: Zuschnitt mit dickeren Drähten, Verzicht auf den Einsatz einer Vorschneiderolle, Programmierung des Schicht-Roboters auf eine „extra grobe“ Behandlung der Steine, schief brennender Ofen mit verschobener Temperatureinstellung, Einsatz alter, bereits ausgemusterter Fließbänder. Das Ergebnis: Ein Stein, dessen bewusst geschaffene „Fehlerhaftigkeit“

Architekten

Esch Sintzel Architekten, Zürich
www.eschsintzel.ch

Projekte (Auswahl)

2011 Fußgängerverbindung Plessur-Halde, Chur
2007 Wohnüberbauung Stähelimatt, Zürich-Seebach

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