Bauwelt

Den Klempner brauchen wir immer – Ideen für die produktive Stadt Brüssel

In puncto städtischer Nutzungsmischung lügen wir uns seit Jahren in die Tasche, sagt Kristiaan Borret, der Brüsseler Stadtbaumeister. Während wir scheinheilig von Mischung reden, drücken wir das Gewerbe samt seinen Arbeitsmöglichkeiten ab in die Peripherie. Borret hat für Brüssel ein großangelegtes Konzept entwickelt, das er in sieben Punkten für die Bauwelt erläutert. Dazu zählt die räumliche Fürsorgepflicht für die Kleinindustrie genauso wie ausgefeilte architektonische Vorschläge für ein neues „Neben- und Übereinander“ von Gewerbe und Wohnen

Text: Borret, Kristiaan, Brüssel

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    Industrielle Brachen im Zentrum von Brüssel werden als Lagerfläche genutzt.
    Foto: Büro Central, Brüssel

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    Industrielle Brachen im Zentrum von Brüssel werden als Lagerfläche genutzt.

    Foto: Büro Central, Brüssel

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    Lageplan der Stadt Brüssel. Der Kanal zieht eine Trennlinie zwischen Reich und Arm. Rot: Industriegebiet; blau: Bürodistrikt
    Foto: Architecture Work­room, Brüssel

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    Lageplan der Stadt Brüssel. Der Kanal zieht eine Trennlinie zwischen Reich und Arm. Rot: Industriegebiet; blau: Bürodistrikt

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    Lokistik- und halbindustrielle Betriebe am Kanal in Brüssel. Die am Rande der Stadt gelegene Industrie muss in die Stadt integriert werden.
    Foto: Jo Struyven

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    Lokistik- und halbindustrielle Betriebe am Kanal in Brüssel. Die am Rande der Stadt gelegene Industrie muss in die Stadt integriert werden.

    Foto: Jo Struyven

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    Mit „Next Economy“ entsteht womöglich ein neues Modell, das die Produktion zurück in die Stadt bringt.
    Foto: Architecture Work­room, Brüssel

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    Mit „Next Economy“ entsteht womöglich ein neues Modell, das die Produktion zurück in die Stadt bringt.

    Foto: Architecture Work­room, Brüssel

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    Traditionelle Handwerksberufe gehören genauso in eine durchmischte Stadt wie die High-End-Produktion.
    Foto: Architecture Work­room, Brüssel

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    Traditionelle Handwerksberufe gehören genauso in eine durchmischte Stadt wie die High-End-Produktion.

    Foto: Architecture Work­room, Brüssel

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    Der geplante Tinker Tower holt dort, wo bisher Wohn- und Bürotürme die Silhou­ette dominierten, die vertikale Produktion zurück in die Stadt.
    Foto: Plusofficearchitects, Brüssel

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    Der geplante Tinker Tower holt dort, wo bisher Wohn- und Bürotürme die Silhou­ette dominierten, die vertikale Produktion zurück in die Stadt.

    Foto: Plusofficearchitects, Brüssel

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    Neue Industriezone entlang des Kanals mit 40% Wohnungen und 90% der Erdgeschosszone Produktion
    Foto: Büro Central, Brüssel

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    Neue Industriezone entlang des Kanals mit 40% Wohnungen und 90% der Erdgeschosszone Produktion

    Foto: Büro Central, Brüssel

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    Foto: Büro Central, Brüssel

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    Foto: Büro Central, Brüssel

Den Klempner brauchen wir immer – Ideen für die produktive Stadt Brüssel

In puncto städtischer Nutzungsmischung lügen wir uns seit Jahren in die Tasche, sagt Kristiaan Borret, der Brüsseler Stadtbaumeister. Während wir scheinheilig von Mischung reden, drücken wir das Gewerbe samt seinen Arbeitsmöglichkeiten ab in die Peripherie. Borret hat für Brüssel ein großangelegtes Konzept entwickelt, das er in sieben Punkten für die Bauwelt erläutert. Dazu zählt die räumliche Fürsorgepflicht für die Kleinindustrie genauso wie ausgefeilte architektonische Vorschläge für ein neues „Neben- und Übereinander“ von Gewerbe und Wohnen

Text: Borret, Kristiaan, Brüssel

Unsere heutige Stadt ist keine vollständige Stadt
In den vergangenen Jahrzehnten haben in Europa unzählige Stadterneuerungen stattgefunden. Viel Brachland des postindustriellen Zeitalters wurde erfolgreich in attraktive Stadtviertel umgestaltet. Der Wohnbau wurde als wichtigste Nutzung in den Vordergrund gerückt, und aus guten Gründen wurden in den neuen Quartieren auch einige Büros und öffentliche Einrichtungen untergemischt. Auf keinen Fall fehlen sollten Kneipen, Geschäfte und Restaurants – unser Ziel bestand darin, aus jeder neuen Wohngegend ein möglichst „authentisches, pulsierendes Stadtviertel“ zu machen. Wir hielten an der Ideologie der gemischten Stadt fest, ohne uns die Frage zu stellen, wie sehr diese neue Stadt tatsächlich durchmischt ist. Wenn wir heute zurückblicken, sehen wir aber, dass wir systematisch eine Funktion ausgeschlossen haben: die produktive Wirtschaft. Unsere neuen Stadtviertel sind viel weniger durchmischt, als wir uns weismachen wollen.
Aus einer Reihe von Gründen erfolgte die städtische Erneuerung in Brüssel später als in anderen europäischen Großstädten. Ausgedehnte Brachflächen entlang des Kanals im Zentrum von Brüssel warten bis heute auf neue Projekte, und auch in dem von Industrie geprägten Stadtgewebe des 19. Jahrhunderts sind noch immer viele kleine Unternehmen untergebracht. Brüssel befindet sich insofern in der besonderen Lage, aus den Entwicklungen in anderen Städten zu lernen und in der Stadterneuerung einen Weg einzuschlagen, der die produktive Wirtschaft als wichtigen Teil ihrer Entwicklung versteht und sie nicht aus der Stadt verdrängt.
Thinkers versus Makers
Die Region Brüssel bietet in im Stadtzentrum viele Arbeitsplätze für hochqualifizierte Arbeitnehmer, die selbst nicht in der Stadt wohnen – umgekehrt wohnen in der Stadt viele Geringqualifizierte, die hier keine oder kaum Arbeit finden können. Durch diese gegenläufige Bewegung ist der tägliche Pendlerverkehr zwischen Stadtumland und dem Hauptgeschäftszentrum unverhältnismäßig hoch. Gleichzeitig ist die Arbeitslosenrate unter Geringqualifizierten, die in den Kanalvierteln wie Molenbeek und Kuregem wohnen, enorm hoch. Dieses Ungleichgewicht führt zu strukturellen Problemen, was die Wirtschaft, die Mobilität und das soziale Gefüge betrifft.
Ziel der Brüsseler Stadtplanung muss daher sein, dass der Kanal keine Trennlinie mehr darstellt zwischen den höher gelegenen und den tiefer liegenden Teilen der Stadt, zwischen Reich und Arm, zwischen Thinkers und Makers. Diversität und soziale Mischung sind die entscheidenden Stichworte, und dies muss auch für die städtische Wirtschaft gelten. Eine Wirtschaft, die nicht einseitig zielgruppenorientiert ist und eine höhere Beschäftigungsvielfalt bietet, liefert nicht nur ein gerechteres und sozial ausgewogeneres Abbild der Stadtgesellschaft, sondern weist gerade auch in Zeiten wirtschaftlichen Rückgangs die notwendige Flexibilität auf, um Dellen abzufangen.
Die industrielle Rückseite der städtischen Konsumwirtschaft gehört genauso zur Stadt
Städtische Wirtschaft besteht aus viel mehr als nur aus Büros, Einzelhandel und Gastronomie. Wir wissen das zwar, sehen es aber meist nicht. Entlang des Brüsseler Kanals haben noch immer zahlreiche halbindustrielle und Logistikbetriebe ihre Standorte. Viele arbeiten mit lokalen Arbeitskräften und sind von der Lage am Wasser abhängig. Sie gehören genauso zur Stadt! Dafür ist aber ein Bewusstseinswandel erforderlich. Die Betonwerke entlang des Kanals zum Beispiel sind keine Fremdkörper in der Stadt, sondern gehören zum Perpetuum mobile des Bauens in der Stadt. Die Sammel- und Recyclingbranche für Glas, Metall oder E-Müll lebt von den Restprodukten, die der städtische Metabolismus hervorbringt. Die Logistik der Paketdienste hält unser intensives städtisches Leben am Laufen. Solche und ähnliche Tätigkeiten gehören ebenso zur Realität der Stadt wie die Dienstleistungen. Wir müssen von Neuem lernen, die produktive Rückseite der städtischen Wirtschaft nicht minder wichtig für die Stadt zu betrachten wie die Konsumwirtschaft auf ihrer Schokoladenseite. Das Betonwerk gehört genauso zur Stadtstruktur wie die Restaurants, die neuen Einkaufsstraßen und die edlen Wohnprojekte, die wir gewohnheitsgemäß als „städtische Renaissance“ hochleben lassen. Dazu gehört dann auch, dass die industrielle Fertigung als förderungswürdiger Teil der Stadt verstanden und in die Planung eingebunden wird.
The Next Economy?
Derzeit erleben wir einen richtigen Hype um das Thema der produktiven Stadt. Wir begeistern uns über FabLabs und Co-Working-Spaces, wir schwärmen von allerlei Hipster-Produkten aus lokaler städtischer Fertigung oder von in der Stadt hergestellten Lebensmitteln. In vielen europäischen Städten tauchen Mikrobrauereien, lokale Fahrradhersteller, Chocolatiers und Instrumentenbauer auf. Sie sind alle herzlich willkommen. Nicht übersehen werden darf, dass es sich dabei häufig um individualistische und hochqualifizierte Arbeitnehmer handelt, die am Beginn einer neuen Lebensphase stehen. Sie bringen keine Lösungen für die Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten. Die produktive Stadt der Zukunft muss mehr sein als künstlerisch inspiriertes Handwerksgewerbe.
Möglicherweise erleben wir gerade das Ende einer Form der Stadterneuerung, wie sie für das postindustrielle Zeitalter charakteristisch war. Unter dem Stichwort „Next Economy“ könnte sich ein neues Modell ankündigen, in dem die Wirtschaft sozialer, grüner, lokaler und vielleicht auch städtischer wird. Werden wir die Stadt bald als ein System betrachten, in dem Energie-, Wasser-, Abfall- und Materialströme miteinander gekoppelt sind und eine neue Kreislaufwirtschaft enststehen kann?
Der Klempner bleibt unverzichtbar
In einer wirklich durchmischten Stadt fördern, würdigen und freuen wir uns über ganz unterschiedliche Formen der produktiven Erwerbstätigkeit. Dazu gehören gerade auch die traditionellen Gewerbe und Handwerksberufe, die im Hype um die produktive Stadt bisher wenig Rückhalt erfahren. Flaschner, Schlosser und Reifenmonteure haben alle ihre Kunden in der Stadt. Sie machen Reparaturen und Instandsetzungen, die immer notwendig sein werden, egal, wie die Next Economy aussehen wird. Meistens brauchen sie nicht mehr als ein kleines Lager, eine Werkstatt oder eine Garage. Typologisch lassen sie sich, jedenfalls was den Maßstab betrifft, recht einfach in die städtische Umgebung integrieren. Klein bedeutet hier: wirtschaftlich nicht unbedeutend. Für gewöhnlich bieten gerade die raumintensiven Betriebe eher weniger Arbeitsplätze an als die Kleinbetriebe. In der Brüsseler Kanalzone wohnen viele solcher Facharbeiter, und es ist sowohl im Sinne einer nachhaltigen Mobilität als auch der sozialen Verantwortung, diese Arbeitsstellen in der Stadt zu erhalten. Unter allen Umständen sollte die Planung darauf achten, dass der Handwerker, der unsere städtischen Häuser repariert, nicht aus der Stadt hinausfahren muss, um für sein Gerät einen verfügbaren Lagerraum zu finden!
Das neue Nebeneinander der Funktionen
In der von der Industrie geprägten Stadt des 19. Jahrhunderts stand das Wohnhaus des Direktors neben der Fabrik, die Kleinindustrie befand sich im Innenhof eines Baublocks und danben und darüber lagen die Arbeiterwohnungen. Räumliche Verwobenheit war kein städtebauliches Ziel, sondern Realität. Diese Strukturen beinhalteten soziale Ausbeutung, menschliche Tragödien und ökologische Katastrophen – eine rückblickende Romantisierung wäre fehl am Platz. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass das entwerferische Wissen, wie solche dichten, gemischten Strukturen zu gestalten, verloren gegangen ist.
Die Brüsseler Architekten Central haben für eine Industriezone längs des Kanals Entwurfsstudien vorgelegt, die die neuen Brüsseler Raumplanungsvorschriften berücksichtigen, wonach mindestens 40% zusätzlicher Wohnungsbau geschaffen und 90% der Erdgeschosszonen für produzierendes Gewerbe reserviert werden müssen. Die Studien zeigen Lösungsmodelle, wie zum einen Gewerbestrukturen mit „nicht wesentlicher Störung“ angemessen mit neuen Wohnkonzepten kombiniert und wie zum anderen neue räumliche Verbindungen zwischen Stadt und Kanal geschaffen werden können. Dafür braucht es keine komplizierten multifunktionalen Gebäudetypologien“. Das Prinzip des „Nebeneinander“ funktioniert, solange es im kleinen Maßstab erfolgt – die durchmischte Stadt kann sich aus zahlreichen nicht-durchmischten Fragmenten zusammensetzen.
Neue Überrlagerung der Funktionen
Ein weiteres innovatives Projekt, das Brüssel im Rahmen der Architekturbiennale in Rotterdam ausgestellt hat, befindet sich an der Grenze zwischen Stadt und Hafen. Entworfen wurde der „Tinker Tower“ von dem Büro Plusoffice im Auftrag des Architecture Workroom Brüssel. An dieser strategisch wichtigen Stelle der Stadt, wo bisher Wohn- und Bürohochhäuser die Skyline dominierten, stellt dieser Turm ein Wahrzeichen dar für die neuen Produktionsformen in der Stadt. Im Erdgeschoss bietet diese vertikale Fabrik jenen Betrieben ein Dach, die Zugang zum Kanal benötigen. In den Obergeschossen ist Gewerbe untergebracht, das auch vertikal über Aufzüge beliefert werden kann. Extern angebrachte Schächte und Infrastrukturen sorgen dafür, dass die Flächen im Inneren stützenfrei sind. Im oberen Bereich des Turms befinden sich öffentliche Funktionen wie Sporteinrichtungen. Die Architektur ist Ausdruck einer selbstbewussten Stadtentwicklung, die die wiedergewonnene Wertschätzung der städtischen Produktion neben den funktional anders gearteten Verdichtungswellen der vergangenen Jahrzehnte sichtbar macht.
Übersetzung aus dem Niederländischen von Judith Grützbauch

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