Bauwelt

Architekturen der Imagination

Der französische Soziologe, Literaturkritiker und Philosoph Roger Caillois beschrieb 1965 in Au coeur fantastique das Phantastische als einen „Bruch mit der geltenden Ordnung“, als „Einbruch des Unzulässigen in die unveränderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen“. Anlässlich der Ausstellung, Architektur wie sie im Buche steht, 2006 im Architekturmuseum der TU München, thematisiert der Kunsthistoriker Hans Holländer diesen Gedanken, indem er diese „rupture de l’ordre reconnu“ mit einem Riß im Vorhang vergleicht, „durch den sichtbar wird was dahinter liegt oder was sich, nehmen wir an, der Riß gehe durch eine Mauer, im Inneren des Gebäudes befindet.“

Text: Meyerspeer, Bernd, München

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Bachelorette II, 2017; Digital Print 29,7 x 42 cm, Auflage 5
© Stijn Jonckheere

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Skizze zu “ Kosmos“, 2017
© Stijn Jonckheere

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Skizze zu “ Kosmos“, 2017

© Stijn Jonckheere


Architekturen der Imagination

Der französische Soziologe, Literaturkritiker und Philosoph Roger Caillois beschrieb 1965 in Au coeur fantastique das Phantastische als einen „Bruch mit der geltenden Ordnung“, als „Einbruch des Unzulässigen in die unveränderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen“. Anlässlich der Ausstellung, Architektur wie sie im Buche steht, 2006 im Architekturmuseum der TU München, thematisiert der Kunsthistoriker Hans Holländer diesen Gedanken, indem er diese „rupture de l’ordre reconnu“ mit einem Riß im Vorhang vergleicht, „durch den sichtbar wird was dahinter liegt oder was sich, nehmen wir an, der Riß gehe durch eine Mauer, im Inneren des Gebäudes befindet.“

Text: Meyerspeer, Bernd, München

Stijn Jonckheere, ein junger belgischer Architekt und Architekturzeichner, versucht in einer aktuellen Ausstellung in der Münchner Galerie Karin Sachs, mit dem Mittel der phantastischen Architekturzeichnung, die durch den Riß sichtbar gewordenen Dinge hinter der Mauer geometrisch präzise freizulegen, um sie anschließend wieder hinter einem neuen Vorhang der Imagination verschwinden zu lassen. Der Betrachter, der diesen konstruierten Kosmos, so der Titel der Ausstellung, erforschen und durchforsten möchte, kann dabei zuerst keine eigene Perspektive einnehmen. Denn er wird durch die konsequente axonometrische Darstellungsweise aufgefordert, auf die unterschiedlichen Sujets einen quasi unverstellten und objektiven Blick zu richten, allerdings mit einer Einschränkung, die Albert Einstein 1921 in dem Vortrag Geometrie und Erfahrung am Beispiel der Mathematik folgendermaßen erläuterte: “Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“

Diese Latenz der Verunsicherung zwingt den Betrachter anschließend doch seine eigene Bildperspektive einzunehmen und seine jeweils besondere Position der Wahrnehmung und Interpretation zu reflektieren, da die Axonometrie keiner gewohnten Seherfahrung folgt. Im Gegenteil, sie widerspricht ihr geradezu wie Bernhard Schneider 1981 in einem Aufsatz in Daidalos anmerkt: „Sie stellt nicht dar, wie sich die Dinge im Auge abbilden, sondern wie sie sind. Sie baut auf den einfachen, ,objektiven’ planparallelen Projektionsverfahren auf, die den Gegenstand in getrennten, als senkrecht zu einander stehend gedachten Ansichten abbilden. Ihnen fehlt, was die Perspektive so ‚konkret’ macht: sie bilden immer nur eine Seite des Gegenstandes ab, sie geben keine Entfernung des Betrachters zum Gegenstand an, noch treffen sie eine Aussage über die Höhe des Gegenstandes im Verhältnis zur Augenhöhe des Betrachters. Sie basieren nicht auf erfahrbaren Bildern, sondern auf fiktiven Operationen am Objekt: der Grundriss ist das Bild, das sich ergeben würde, wenn das Gebäude in einer gewissen Höhe über dem Fußboden horizontal durchgeschnitten würde. Die Ansicht ist das Bild des Gebäudes aus einer erdachten unendlichen Entfernung. Der Vertikalschnitt ist das Bild, das sich bieten würde, wenn das Gebäude von oben bis unten aufgeschnitten wäre, usw“.
Seit der Moderne durchzieht diese Art der Darstellung die Architekturzeichnung. Herbert Bayer, Grafiker und Typograph, hat 1924 seine kleinen Architekturen ausschließlich in farbigen Axonometrien dargestellt. Alberto Sartoris, ein Vertreter der italienischen rationalistischen Bewegung, zeichnete mit dieser Methode in starken schwarz-weißen und farbigen Kontrasten seine Häuser. Colin Rowe und Robert Slutzky benutzten in ihrer Schrift Transparency dieses Mittel zur Analyse der Architektur Le Corbusiers. Und für James Stirling war die ausgeklügelte Axonometrie seit den 60iger Jahren des letzten Jahrhunderts die bevorzugte Zeichentechnik für seine Architekturen.
Andere Referenzen sind zweifelsohne die Notes from an Architectural Underground der Texas Rangers und die spätere Rezeption der postmodernen französischen Denker im anglo – amerikanischen Architekturdiskurs: John Hejduk und Peter Eisenman beginnen die Grenzen der Architektur auszuloten, Archigram zeichnen utopische Avantgarde Architekturen, Neil Denari und Future Systems überführen das Konzept der Entropie in eine neue Maschinenästhetik und Lebbeus Woods entwirft ein architektonisches Paralleluniversum.
1984 stellt zum ersten Mal eine Gruppe russischer Architekten aus Moskau und Novosibirsk unter dem Titel Paper Architects Architekturzeichnungen aus dem inneren Exil der Sowjetunion aus. Vor allem die Arbeiten Alexander Brodsky’s beeindrucken durch ihre virtuosen und untergründigen Atmosphären und sind als kritischer Kommentar auf die Situation der Architektur in der damaligen Sowjetunion zu lesen.
Der gezeichnete Kosmos von Stijn Jonckheere bewegt sich innerhalb dieser Bezüge, gewinnt aber seinen besonderen Reiz aus dem künstlerischen Zugriff auf eine verfallene Ferienkolonie an der belgisch – französischen Grenze. Sie ist für ihn ein realer Ort der persönlichen Erfahrung und Erinnerung, die er in flüchtigen Handskizzen festhält. Die später daraus erträumten Architekturfragmente und Allusionen mit ihren geheimnisvollen Gegenständen werden in seinen feinen, ausgefeilten und ästhetisch anspruchvollen digitalen Zeichnungen zu dreidimensionalen räumlichen Konstruktionen und labyrinthischen Gefügen zusammengebaut und anschließend, in einer digital aufwendigen Transformation, in dünnste zweidimensionale Strichzeichnungen überführt, die den Betrachter in einen neuen phantastischen Kosmos entführen.
Die Zeichnung ermöglicht somit die Überschreitung der realen Architektur, zeigt zugleich aber auch ihre Grenzen auf. Darin besteht ihr experimenteller Reiz für alle Architekten, die zugleich auch malende und zeichnende Gedankenspieler sind.

Ausstellung
13. April 2018 – 26. Mai 2018
Galerie Karin Sachs
Augustenstrasse 48
80333 München
Mi – Fr
13.00 Uhr – 18.00 Uhr
Sa
13.00 Uhr – 16.00 Uhr
und nach Vereinbarung


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