Bauwelt

Kassel: eine Fiktion

Nabel der Welt oder doch bloß eine hessische Provinzstadt? Zur documenta 13 lud die damalige Chefkuratorin Carolyn Christov-Bakargiev mehrere Schriftsteller ein, sich über Kassel Gedanken zu machen. Einen Sommer lang sollten sie sich im ­Restaurant „Dschingis Khan“ von documenta-Besuchern beim Schreiben zusehen lassen. Der Spanier Enrique Vila-Matas hat seinen Arbeitsort in den Karlsauen ­gehasst und einen eindrücklichen Roman über die deutsche Peripherie verfasst.

Text: Vila-Matas, Enrique, Barcelona

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    Ungewöhnlicher Ort für eine „Writer‘s Residency“: Der Bungalow mit asiatischem Portal des Restaurants Dschingis Khan
    Foto: Rene Graf

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    Ungewöhnlicher Ort für eine „Writer‘s Residency“: Der Bungalow mit asiatischem Portal des Restaurants Dschingis Khan

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    Links: Enrique Vila-Matas im Dschingis Khan. Im April erschien sein Roman, der mit der skurrilen Einladung nach Kassel beginnt.
    Foto: Verlag

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    Links: Enrique Vila-Matas im Dschingis Khan. Im April erschien sein Roman, der mit der skurrilen Einladung nach Kassel beginnt.

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    Im April erschien sein Roman, der mit der skurrilen Einladung nach Kassel beginnt.
    Abb.: Verlag

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    Im April erschien sein Roman, der mit der skurrilen Einladung nach Kassel beginnt.

    Abb.: Verlag

Kassel: eine Fiktion

Nabel der Welt oder doch bloß eine hessische Provinzstadt? Zur documenta 13 lud die damalige Chefkuratorin Carolyn Christov-Bakargiev mehrere Schriftsteller ein, sich über Kassel Gedanken zu machen. Einen Sommer lang sollten sie sich im ­Restaurant „Dschingis Khan“ von documenta-Besuchern beim Schreiben zusehen lassen. Der Spanier Enrique Vila-Matas hat seinen Arbeitsort in den Karlsauen ­gehasst und einen eindrücklichen Roman über die deutsche Peripherie verfasst.

Text: Vila-Matas, Enrique, Barcelona

1
Je avantgardistischer ein Autor, desto weniger kann er es sich leisten, ­unter dieses Label zu fallen. Aber wen interessiert das? Eigentlich ist mein einleitender Satz nichts als ein McGuffin und hat kaum etwas mit dem zu tun, was ich hier zu erzählen gedenke, obwohl es sein kann, dass über kurz oder lang alles, was ich über meine Einladung nach Kassel und meine anschließende Reise in diese Stadt berichten werde, letztlich genau auf diesen Satz hinauslaufen wird.
Wie manche wissen, erklärt man, was ein McGuffin ist, am besten mit einer Szene im Zug: „Könnten Sie mir sagen, was dieses Paket ist, das dort im Gepäckfach über Ihrem Kopf liegt?“, fragt ein Passagier. Der andere erwidert: „Ach, das ist ein McGuffin.“ Darauf hin will der erste wissen, was ein McGuffin ist, und der andere erklärt ihm: „Ein McGuffin ist ein Apparat, um Löwen in Deutschland einzufangen.“ – „Aber in Deutschland gibt es doch gar keine Löwen“, sagt der erste. „Na, dann ist das auch kein McGuffin“, erwidert der zweite.
Den McGuffin par excellence aber liefert Die Spur des Falken, der größte Bluff der gesamten Kinogeschichte. Der Film von John Huston erzählt von der Suche nach einer Statuette, Tribut, den die Ritter des Malteserordens dem spanischen König für den Erhalt einer Insel zahlten. Im Film wird ununterbrochen geredet, doch am Ende erweist sich der begehrte Falke, für den so viele sogar Morde begangen haben, lediglich als Element zur Erzeugung von Spannung, um die Geschichte voranzutreiben.
Wie man bereits ahnen wird, gibt es eine Menge McGuffins. Den berühmtesten findet man in der Eröffnungsszene von Hitchcocks Psycho. Wer erinnerte sich nicht an den Diebstahl, den Janet Leigh in den ersten Minuten begeht? Dieser Raub scheint so bedeutsam und erweist sich für den Verlauf der Handlung am Ende doch als völlig belanglos. Nichtsdestoweniger erfüllt er seine Funktion, die darin besteht, uns für den Rest des Films an die Leinwand zu fesseln.
McGuffins findet man etwa auch in jeder einzelnen Episode der Simpsons, wo die Eröffnungsszene grundsätzlich wenig oder nichts mit dem weiteren Handlungsverlauf der jeweiligen Episode zu tun hat.
Auf meinen ersten McGuffin stieß ich in Unter glatter Haut, der Kinoadaptation eines Romans von Carlo Emilio Gadda: In diesem Film telefoniert der Kommissar Ingravallo, mit einer Menge Kaffee intus und verloren im Labyrinth seiner verworrenen Ermittlungen, mehrmals mit seiner getreuen Gattin, die wir nie zu sehen bekommen. Ist Ingravallo vielleicht mit einer McGuffin verheiratet?
Es gibt so viele McGuffins um uns herum, dass sich erst vor einem Jahr einer in mein Leben schlich, als eines Morgens eine junge Frau bei mir anrief, die sich als María Boston und Sekretärin der McGuffins, eines irischen Ehepaars, ausgab, das mich gerne zu einem Abendessen einladen wolle. Sie hege keinerlei Zweifel, dass auch ich erfreut sein würde, sie zu treffen, denn sie hätten vor, mir ein unwiderstehliches Angebot zu unterbreiten.
Waren die McGuffins Multimillionäre? Wollten sie mich aus irgendeinem obskuren Grund kaufen? So lautete meine scherzhafte Antwort auf diesen merkwürdig provokanten Anruf; sicher nur ein Spaß, den sich einer mit mir erlaubte.
Normalerweise hätte ich bei solchen Anrufen gleich wieder aufgelegt, doch María Bostons Stimme klang so warm und bezaubernd, und an dem Morgen war ich gerade bestens aufgelegt, sodass ich eine Weile mitspielte, ehe ich einhängte, und das war mein Verhängnis, denn so ließ ich der jungen Boston Zeit, mir die Namen von ein paar Freunden zu nennen, die wir gemeinsam hatten, die Namen meiner besten Freunde.
„Was die McGuffins Ihnen vorschlagen“, sagte sie unvermittelt, „ist, ­Ihnen ein für alle Mal das Geheimnis des Universums zu enthüllen. Sie ­kennen es und möchten es Ihnen übermitteln.“
Ich beschloss also mitzuspielen. Ob die McGuffins schon wüssten, dass ich abends nie zum Essen ausging? Und dass ich mich seit sieben Jahren morgens stets glücklich fühlte, während ich gegen Abend regelmäßig unter Anfällen von Trübsal litte und mir die finstersten Horrorszenarien ausmalte, weshalb es sich für mich empfehle, abends das Haus nicht zu verlassen?
Die McGuffins seien über alles im Bilde, sagte Boston. Ihnen sei bekannt, wie ungern ich abends ausginge. Dennoch wollten sie sich nicht vorstellen, dass ich lieber zu Hause blieb, anstatt das Geheimnis des ­Universums zu lösen. Das wäre doch zu feige.
Ich habe im Leben schon mancherlei merkwürdige Anrufe erhalten, doch dieser war die Krönung. Obendrein klang Bostons Stimme von Mal zu Mal angenehmer. Sie hatte ein ganz besonderes Timbre, das mich an etwas erinnerte, ohne recht zu wissen, an was. Jedenfalls bewirkte es, dass ich mich noch elanvoller, optimistischer und glücklicher fühlte, als sonst morgens üblich. Ich fragte sie, ob sie auch zu dem Dinner kommen würde, wo man mir das Geheimnis eröffnen wolle. „Ja“, sagte sie, „ich habe vor hinzugehen. Immerhin bin ich beider Sekretärin und habe gewisse Verpflichtungen.“
Minuten später war es ihr unter Ausnutzung meiner optimistischen Stimmungslage gelungen, mich restlos zu überzeugen. Ich würde es nicht bereuen, sagte sie, das Geheimnis des Universums sei ja wohl der Mühe wert. „Mein Geburtstag war letzten Monat“, sagte ich. „Nur für den Fall, ­jemand plant eine Überraschungsparty und hat sich im Datum geirrt.“ – „Nein“, sagte Boston, „die Überraschung ist das, was die McGuffins Ihnen eröffnen werden, darauf würden Sie nie kommen.“
2
Und so ging ich drei Abende später pünktlich zu der Verabredung, wo zwar nicht das irische Ehepaar erschien, dafür aber Boston, eine hoch aufgeschossene, strahlend junge Frau, pechschwarzes Haar, rotes Kleid und atemberaubende goldene Sandaletten. Sie war intelligent und gewieft zugleich. Bei ihrem Anblick konnte ich eine innere Betrübnis nicht verhehlen, was sie, jung, wie sie war, intuitiv erfasste; sie schien zu begreifen, dass in mir etwas schwelte, das mit dem Alter zu tun hatte, eine tiefe Niedergeschlagenheit und Wehmut.
Zweifellos war ich ihr mein Lebtag noch nicht begegnet. Immerhin war sie mindestens dreißig Jahre jünger als ich. „Verzeihen Sie den Köder, die Falle, den Bluff“, sagte sie gleich nach der Begrüßung. Ich fragte sie, von welcher Falle, welchem Bluff sie rede. „Sehen Sie nicht? Ich habe Sie an der Nase herumgeführt, es gibt keine McGuffins“, sagte sie. Dann erklärte sie mir, sie habe gedacht, mit einer Finte würde sie am ehesten bei mir Gehör finden, denn in Anbetracht meines literarischen Rufs als Exzentriker habe sie gemeint, mit einem extravaganten Anruf habe sie mehr Chancen, mein Interesse zu wecken und so ihre schwierige Aufgabe zu meistern, mich abends aus dem Haus zu locken.
Sie habe mich persönlich treffen müssen, um mir einen Vorschlag zu unterbreiten, da sie befürchtete, am Telefon nicht die gewünschte Antwort zu erhalten. „Und was für einen Vorschlag? Den gleichen, den die McGuffins mir machen wollten?“ Zunächst einmal freue sie sich, sagte sie, nun reichlich Zeit zu haben, um mir ihr Angebot schmackhaft zu machen, das sie mir im Namen ihrer Chefinnen Carolyn Christov-Bakargiev und Chus Martínez, den Kuratorinnen der documenta 13, übermitteln solle.
„Also“, sagte ich, „sind Carolyn Christov-Bakargiev und Chus Martínez die McGuffins.“ Sie lächelte. „Ganz genau, doch zunächst wüsste ich gern, ob Sie schon je von der Kasseler documenta gehört haben.“ – „Sogar eine ganze Menge“, sagte ich. „Nicht nur das, Freunde von mir sind in den Siebzigern völlig verwandelt aus Kassel zurückgekehrt, nachdem sie dort großartige Avantgardekunst zu sehen bekamen. In der Tat war Kassel – aus diesen und aus anderen Gründen – in meiner Jugend geradezu legendär und ist es bis heute geblieben. Es ist ein Mythos meiner Generation, und wenn ich mich nicht täusche, auch der folgenden. Alle fünf Jahre ­versammeln sich dort bahnbrechende Werke. Hinter dem Mythos von Kassel“, schloss ich, „steht der Mythos der Avantgarde.“
Kurzum, sagte María Boston, sie habe den Auftrag, mich zur Teilnahme an der documenta 13 einzuladen. Wie ich sehen könne, fügte sie hinzu, sei es nicht wirklich eine Lüge gewesen, als sie von einem unwiderstehlichen Angebot gesprochen habe.
Diese Einladung machte mich überglücklich, dennoch zügelte ich meine Euphorie. Ich wartete einige Sekunden ab, bevor ich sie fragte, was sie von einem Schriftsteller wie mir auf einer Kunstausstellung wie dieser denn erwarteten. Soweit ich wisse, gingen Schriftsteller nicht nach Kassel. „Und die Vögel gehen nicht nach Peru, um zu sterben“, sagte Boston, womit sie ihre Schlagfertigkeit bewies. Gut pariert, McGuffin, dachte ich. Es folgte ein kurzes abgrundtiefes Schweigen, das sie brach. Ihr Auftrag laute, mich zu bitten, mir drei Wochen gegen Ende des Sommers 2012 freizuhalten, um jeden Morgen im chinesischen Restaurant Dschingis Khan am Rand von Kassel zuzubringen.
„Dschingis wie?“
„Dschingis Khan.“
„In einem China-Restaurant?“
„Genau. Um dort vor den Augen des Publikums zu schreiben.“
Eingedenk meiner notorischen Angewohnheit, jedes Mal, wenn ich an seltsame Orte eingeladen werde, um dort etwas Absonderliches zu tun, Protokoll zu führen (mit der Zeit wurde mir klar, dass mir eigentlich alle Orte seltsam erscheinen), hatte ich den Eindruck, ich durchlebte wieder einmal den Beginn einer Reise, die am Ende eine fertig geschriebene Erzählung ergeben könnte, in der ich, wie üblich, das Staunen mit meinem unterbrochenen Leben verbinden würde, um die Welt als einen absurden Ort zu beschreiben, an den es einen aufgrund einer äußerst kuriosen Einladung verschlägt.
Ich blickte Boston einige Momente lang in die Augen. Es schien, als sei sie in voller Absicht so vorgegangen, damit ich am Ende eine lange Reportage über eine seltsame Einladung nach Kassel schrieb, wo ich in einem China-Restaurant vor den Augen des Publikums arbeiten sollte. Sie wich meinem Blick aus. Das sei alles, sagte sie. Carolyn, Chus und das gesamte Kuratorenteam bäten mich lediglich, jeden Morgen auf einem Stuhl im China-Restaurant Platz zu nehmen und meiner gewohnten Tätigkeit nachzugehen – wie an einem normalen Tag in Barcelona. Mit anderen Worten, sie bäten mich nur, zu schreiben und natürlich möglichst mit den Leuten in Kontakt zu treten, die ins Restaurant kämen, um mit mir zu reden. Ich dürfe nie vergessen, „miteinander in Kontakt treten“ würde als generelles Motto und ebensolche Aufforderung auf der documenta 13 allgegenwärtig sein.
Ich solle nicht denken, sagte sie, ich sei der einzige Schriftsteller, den sie für diese Nummer vorgesehen hätten, sie beabsichtigten, noch vier oder fünf weitere aus Europa und Amerika, vielleicht auch ein oder zwei aus Asien einzuladen.
Mir gefiel der Gedanke, in Kassel erwünscht zu sein, nicht aber die Vorstellung, drei Wochen lang im China-Restaurant zu hocken. Das war mir von Beginn an klar. Selbst auf die Gefahr hin, wieder ausgeladen zu werden, sah ich mich daher gezwungen, Boston zu sagen, ihr Angebot sei mir zu dürftig, daher möge sie Carolyn Christov-Bakargiev und Chus Martínez bitte ausrichten, der bloße Gedanke an Hunderte deutscher Rentner auf Seniorentour, die Bussen entstiegen und ins Restaurant strömten, um zu sehen, was ich schriebe, und mit mir in Kontakt zu treten, habe mich nicht nur mental, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes aus der Fassung gebracht.
„Niemand hat etwas von deutschen Rentnern gesagt“, berichtigte Boston mich plötzlich ziemlich streng. Sie hatte recht, niemand hatte von Rentnern oder Seniorenfahrtengesprochen. Jedenfalls, erklärte ich ihr, wäre ich dankbar für eine andere Art von Beitrag in Kassel, ich könnte etwa einen Vortrag halten, zur Not auch in dieser chinesischen Spelunke. Vielleicht ­eine kleine Rede über das Chaos in der zeitgenössischen Kunst, sagte ich in versöhnlichem Ton. „Niemand hat von Chaos gesprochen“, fuhr Boston mir ins Wort. Das stimmte, davon war nie die Rede gewesen. Wahrscheinlich war ich nur einer derer, die ein altes, dummes Vorurteil gegenüber zeitgenössischer Kunst hegten, und hielt sie in ihrer gegenwärtigen Form für eine reine Katastrophe, für bloßen Schwindel oder dergleichen.
„Okay“, stimmte ich ihr unvermittelt zu, „es gibt kein Chaos in der ­Gegenwartskunst, keine Ideenkrise, keine egal wie geartete Stagnation.“ Nach diesen Worten sagte ich zu, nach Kassel zu kommen. Schlagartig ­erfüllte mich eine tiefe Genugtuung; wie hätte ich auch vergessen können, dass ich mehr als einmal davon geträumt hatte, die Avantgardisten zählten mich zu den Ihren und würden mich eines Tages nach Kassel einladen.
A propos, wer waren überhaupt die Avantgardisten?
Auszug aus „Kassel: eine Fktion“ von Enrique Vila-Matas. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Die Andere Bibliothek.

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