Bauwelt

Lesbos – Notizen einer Reise

Die griechische Insel Lesbos ist nur rund zehn Kilometer von der türkischen Küste entfernt, noch immer kommen täglich Boote mit Flüchtlingen an. Inselbewohner, NGOs und Freiwillige aus aller Welt versuchen, die Konsequenzen der europäischen Abschottungspolitik zu mildern. Auszüge aus einem Reisetagebuch vom Sommer 2016

Text: Nicanor, Cayetana

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    Mitarbeiter der Organisation Lighthouse Relief halten am Leuchtturm von Korakas Ausschau nach Booten, die von der türkischen Küste kommen.
    Foto: Lightouse Relief

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    Mitarbeiter der Organisation Lighthouse Relief halten am Leuchtturm von Korakas Ausschau nach Booten, die von der türkischen Küste kommen.

    Foto: Lightouse Relief

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    Eingang zum Camp von Lighthouse Relief
    Foto: Lighthouse Relief

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    Eingang zum Camp von Lighthouse Relief

    Foto: Lighthouse Relief

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    Zelte im Camp von Lighthouse Relief

    Foto: Lighthouse Relief

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    Zelte im Camp von Lighthouse Relief

    Foto: Lighthouse Relief

Lesbos – Notizen einer Reise

Die griechische Insel Lesbos ist nur rund zehn Kilometer von der türkischen Küste entfernt, noch immer kommen täglich Boote mit Flüchtlingen an. Inselbewohner, NGOs und Freiwillige aus aller Welt versuchen, die Konsequenzen der europäischen Abschottungspolitik zu mildern. Auszüge aus einem Reisetagebuch vom Sommer 2016

Text: Nicanor, Cayetana

Tag 1 – New York Hi Isabel, In der Anlage findest du meinen unterschriebenen Vertrag. Ich fahre jetzt los und bin dann in ein paar Tagen auf Lesbos. Mir ist klar, dass mein Antrag, als Freiwillige für Lighthouse Relief zu arbeiten, noch nicht angenommen wurde, bin mir aber sicher, dass sich alles zum Guten fügen wird. Grüße, Cayetana
Ich schicke die fertigen Unterlagen an das Aufnahmecamp von Lighthouse Relief auf Lesbos. Isabel ist die dortige Bürochefin. Lighthouse Relief ist eine schwedische NGO mit einem Ableger in Griechenland. Warum ich mich für dieses Camp und nicht für eine andere Hilfsorganisation entschieden habe? Erstens: Die NGO hat Land gepachtet, um ihr Camp in der Nähe des Ortes Skala Sikamineas aufzubauen. Dieses Pachtverhältnis gibt ihr Unabhängigkeit, die die Lager des UNHCR oder der griechischen Regierung nicht geben können. Zweitens: Im alten Leuchtturm von Korakas, an einem abseits gelegenen schroffen Küstenabschnitt von Lesbos gegenüber dem türkischen Festland, hat Lighthouse Relief nur wenige ­Kilometer vom Camp entfernt eine Beobachtungsstation eingerichtet, um ankommende Flüchtlingsboote sichten zu können. Drittens: Auch auf dem griechischen Festland unterhält die Organisation zwei Lager, bei Katsikas und Ritsona, um die Flüchtlinge an der Küste nicht nur in Empfang nehmen, sondern ihnen auch eine sichere Unterkunft geben zu können. Viertens: Lighthouse Relief hat hervorragende Kontakte zu einheimischen und inter­nationalen Organisationen, die in Skala Sikamineas arbeiten: Ärzte ohne Grenzen (MSF), Greenpeace, Proactiva und andere.
Ich möchte nach Lesbos fahren, um alles besser verstehen zu können. Ich habe nichts als Fragen: Vorschriften, Regeln, Finanzierung. Mir ist klar, dass alles, was ich in ein paar Wochen leisten kann, nichts Weltbewegendes sein wird und rein symbolischer Natur ist.
Tag 2 – Athen Eine Stadt voller Leben, trotz Wirtschaftskrise. Ich treffe Freunde, laufe herum und steige in einem familiengeführten Hotel ein paar Stunden außerhalb der Stadt ab. Die Schönheit der Landschaft verschlägt mir den Atem. Die Besitzer laden mich zum Essen ein. Ich bekomme einen Crashkurs in Sachen Flüchtlingskrise. Sie erzählen mir vom Internierungslager Moria. Auf Lesbos gibt es heute über 6000 Migranten und Flüchtlinge. Allein in Moria die Hälfte davon. Es ist das Zentrum auf Lesbos, in dem sich ankommende Flüchtlinge registrieren lassen müssen, ehe sie weiter nach Europa reisen. Nach dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom 18.3.2016, wonach „irreguläre Migranten, die von der Türkei aus nach Griechenland gekommen sind, zurück an die Türkei geschickt werden”, wurde das Lager zu einem Internierungslager des griechischen Staates. NGOs wurde es nicht erlaubt, innerhalb des Lagers zu arbeiten. Die Zahl der Asylverfahren ging drastisch zurück. Die Immigranten sind nun auf der Insel Lesbos gefangen. Das verstärkt den Druck auf die Hilfsbereitschaft der Einheimischen, die noch immer mit den Folgen der Schuldenkrise zu kämpfen haben.
Ich lerne die Bedeutung des Wortes Philoxenia kennen. Gastfreundschaft gegenüber Fremden. Philos = Liebe/Freundschaft, Xeno = Fremder. Im Englischen gibt es dafür keine direkte Übersetzung. Die Hoteleigner sind jenseits einer Willkommenskultur.
Tag 6 – Piräus 1 Ich nehme eine Fähre von Piräus, dem zweitgrößten Passagierhafen Europas. Überfüllt, chaotisch. Mir wird erzählt, Piräus sei die temporäre Heimat von 2000 Flüchtlingen. Ich sehe hunderte von Zelten unter einer Autobahnbrücke und in verlassenen Lagerhäusern, bar jeder Sicherheit und sanitärer Einrichtungen. Bevor es dunkel wird, mache ich mich auf zu meiner Fähre.
Tag 9 – Chios Die vergangenen Tage bin ich kreuz und quer über das Mittelmeer gefahren. Ich habe Touristen, Freiwillige, Aktivisten getroffen, alle wollen mir ihre Geschichten erzählen. Die Schönheit der Umgebung ist umwerfend. Man muss unweigerlich an die Epen Homers denken. Hier prallt alles aufeinander: Geschichte und Schönheit, Hoffnung und Horror.
Tag 10 – Mytilene Hauptstadt und Hafen der Insel Lesbos. Seltsame Atmosphäre: Eine Mischung aus Touristen, Polizei und ratlosen Flüchtlingen. Als ich mich zum Lunch in ein Restaurant setze, verteilt der Chef kostenlos Brot an Leute, die im Restaurant fragen. Für ein paar Tage nehme ich Quartier in einem Hotel in der Innenstadt. Der Typ an der Rezeption fragt mich in gebrochenem Englisch: „Freiwillige?” „Ja.“ „30 Prozent Rabatt”.
Tag 12 – Skala Sikamineas2 Ein Fischerdorf. 150 Einwohner, zwei Stunden von Mytilene entfernt. Warmer Empfang bei meinem Eintreffen im Camp von Lighthouse Relief. Der Leiter erklärt mir die Regeln. Ein italienischer Student in den Zwanzigern. Disziplinierter Typ.
Es gibt verschiedene militärisch aussehende Zelte: getrennte Bereiche für Männer, Frauen und Kinder, Zelte zum Wechseln der nassen Kleidung, ein Küchenzelt, ein Zelt für den Empfang, ein beheiztes Zelt gegen Unterkühlungen im Winter. Die medizinische Abteilung liegt am Eingang, in einem festen Stahlcontainer. Auf Versammlungen werden täglich die Aufgaben verteilt. Ich lerne andere Freiwillige kennen: einen Feuerwehrmann aus Los Angeles, Doktoren der Neurowissenschaften und Nanotechnologie, Hausfrauen, Anwälte, Biologen, Filmemacher, Studenten. Es sind Deutsche, Engländer, Australier, Spanier, Franzosen, Norweger, Mexikaner, Schweden, Inder, Niederländer. Omar Alshakal aus Syrien kam aus der Türkei geschwommen – rund 20 Kilometer. Er blieb im Camp als Dauer-Freiwilliger. Der orthodoxe Priester Christoforos Schuff mit Frau und drei Kindern, der Älteste so um die 15 Jahre, lebt seit mehr oder weniger 14 Jahren im Dorf. Er wurde in den USA geboren, seine Verwandtschaftslinien reichen nach Skandinavien. Er spricht fließend Spanisch, Griechisch, Norwegisch und Englisch und glaubt an soziale Gerechtigkeit, unabhängig von der Konfession.
Mir wird ein Schlafplatz auf den Boden in einem der Gemeinschaftszelte zugeteilt.
Tag 13 – Skala Sikamineas Um fünf Uhr weckt uns ein Funkspruch. Ein kleines Boot wurde von MSF und Proactiva gesichtet. 30 Leute. Afghanen, Syrer, Iraner, Senegalesen, Pakistaner. Wir helfen ihnen aus dem Boot. Niemand ist verletzt. Viele Kinder. Wir heißen sie im Lager willkommen, geben ihnen trockene Kleider, Tee und Essen, spielen mit den Kindern. Nach ein paar Stunden nimmt ein Bus sie mit. Ich höre, dass man sie nach Moria bringt, um dort den Papierkram zu erledigen - für ein mögliches Asylverfahren oder ihre Abschiebung. In Moria werden sie mindestens 25 Tage bleiben.
Tag 16 – Korakas Zusammen mit anderen Freiwilligen treffe ich Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF) und Greenpeace im Leuchtturm von Korakas: Ärzte, Piloten, Krankenschwestern und Kulturvermittler. Der Leuchtturm ist fünf Kilometer entfernt vom Camp. Wir helfen den Mitarbeitern von MSF, ihre Station am Leuchtturm abzubauen. Seit dem Türkei-Abkommen vom März 2016 ist die Zahl der Ankommenden zurückgegangen. Viele NGOs haben entschieden, Lesbos zu verlassen. Lighthouse Relief ist ­geblieben. Einer der Gründe ist ihr Eco-Relief & Upcycling-Programm. Es geht darum, Überreste der gestrandeten Schiffe, Schlauchboote und Rettungswesten an den Küsten aufzusammeln. Hier an den Klippen von Korakas liegt tonnenweise Gummi.
Ich lerne Martin Taminiau kennen, den Leiter der MSF-Mission. Früherer Greenpeace-Aktivist, Niederländer, Ende Vierzig. Es erzählt mir, dass im Oktober 2015 mehr als 135.000 Menschen auf Lesbos angekommen seien. Alle in Schlauchbooten der miesesten Qualität. Vollgestopft mit 140 Leuten und mehr. Die Schleuser hätten sie nachts aufs Meer geschickt, damit sie dort auf die Schiffe der NGOS treffen. Das MSF-Team hilft uns bei der Küstenreinigung gemeinsam mit den Fischern vom Dorf.
Tag 18 – Mantamados3 Zehn Kilometer vor Skala Sikamineas. Das Lager Mantamados ist Heimstatt für einige Hundert unbegleitete, minderjährige Jungen, die nach Unruhen im Internierungslager Moria umgesiedelt wurden. Es wurde an einer Nebenstraße eingerichtet und wird von „Save the Children“ betrieben. Ich komme mit ein paar anderen von Lighthouse Re-­lief. Auf unseren Besuch sind wir vorbereitet worden: Lieber kein zu enger Kontakt mit den Jugendlichen, aber gerne Hilfe bei der Einrichtung von Workshops. Seit Monaten haben sie keine Schule gesehen. Es steht ihnen weitgehend frei, zu kommen und zu gehen, wann sie wollen. Die meisten haben ein Smartphone und Facebook. Es ist zwar nicht allen danach zumute, aber wir spielen mit ihnen Fußball, Basketball. Sie sind ziemlich gut!
Tag 20 – Gogi Toula Koutalleli betreibt das Gogi Café in Skala. Es ist das Epizentrum aller Aktivitäten. Skala war schon immer Anlaufstelle für Migranten, sagt Toula im Plauderton. Im letzen Winter aber seien 500 Leute pro Tag gekommen, in ein Dorf mit 150 Einwohnern. Das Gogi ist Treffpunkt und Schutzraum zugleich, notfalls auch improvisierte Klinik. In den Hochzeiten der Krise arbeiteten 180 Helfer auf Lesbos, überwiegend Freiwillige, nur wenige Hauptamtliche.
Tag 32 – Eftalou Die vergangenen Wochen habe ich mit Bootsankünften, Besuchen in Mantamados oder den benachbarten Camps und mit Küs­tensäuberung verbracht. Ich bin nun mit den Grundlagen des Sicherheits- und Rettungswesens vertraut.
Bevor ich wieder nach Hause fahre, besuche ich mit anderen Helfern Eric und Philippa Kempson. Das Paar aus Großbritannien lebt seit den Neunzigern auf Lesbos. Um das Haus herum stehen Container, voll mit Kleiderspenden für die Flüchtlinge. Die Kempsons erzählen uns vom Hope Center, einem leer stehenden Küstenhotel in Eftalou, das sie angemietet und in ein Flüchtlingsheim umgewandelt haben. Wir fahren zum Friedhof der Rettungswesten.
Tag 33 – Skala Sikamineas. Mytilene. Athen 5.30 Uhr: Abdul Rahman, Freiwilliger wie ich, bietet mir an, mich zum Flughafen zu fahren. Zwei Stun­den Fahrzeit. Ich will ihm Benzingeld geben, will ihm meinen Schal geben. Er lehnt ab. Eine Umarmung zum Abschied.
Anmerkungen
– Lesbos ist ein informelles Gefängnis für Migranten, das vom internatio­nalen Recht diktiert wird.
– Die Zustände in den Internierungslagern sind erbärmlich. Migranten werden bei ihrer Ankunft verhaftet. Brände und Aufstände sind an der ­Tages­- ordnung. Das liegt einerseits an fehlenden Sicherheitsvorkehrungen, ist aber mitunter auch eine Form des Protestes, um die Öffentlichkeit zu alarmieren. Oder es sind Angriffe von einheimischen Extremisten.4
– Die Ankunft der Migranten über das Meer wird noch immer als Notfall und nicht als strukturelles Phänomen betrachtet. Das in den Medien vermittelte Bild, Migranten seien Opfer und Europäer die Retter, entspricht nicht der von mir erlebten Wirklich­keit.
– Unabhängig vom EU-Abkommen mit der Türkei steigen die Flüchtlingszahlen wieder an.
– Für Architekten gibt es angesichts der vielen Menschen, die nach Europa kommen, Aufgaben, die über das Bauen hinaus führen.
– In Griechenland ist eine neue Form des Humanitäts-Tourismus entstanden. Wer nach Skala kommt, trinke einen Kaffee im Gogi Café.
Aus dem Englischen von Michael Goj
1 Im Juli 2016 räumten die Behörden auf friedliche Weise das Lager von Piräus.
2 Im Nachhinein habe ich erfahren, dass die Bewohner von Skala für den Friedensnobelpreis nominiert wurden.
3 Das Mantamados-Zentrum wurde im August geschlossen. Alle Kinder wurden in Unterkünfte auf dem Festland verteilt.
4 Im November wurden zwei Bewohner in Moria bei einer Gasexplosion getötet.

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