Bauwelt

Hannoveraner Ägyptomanie

Anfang des 20. Jahrhunderts ist Deutschland im Ägyptenfieber. Viele Architekten sind begeistert von den modernen Formen aus dem Land der Pharaonen, die sich wohltuend vom vorherrschenden Historismus abheben. Keksfabrikant Hermann Bahlsen nutzt die positiven Assoziationen, um mit der altägyptischen Hieroglyphe TET zu werben. Eine eigens errichtete TET-Stadt soll seine Arbeiter beherbergen und die Produktion von Backwerk in fast sakrale Sphären heben

Text: Bormann, Ralf, Hannover

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    In Zeiten einer allgemeinen Begeisterung für alles Ägyptische gründete Hermann Bahlsens Marketingstrategie auf der altägyptischen Hieroglyphe TET.
    Foto: Heinrich Mittag/Bahlsen-Archiv Hannover

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    In Zeiten einer allgemeinen Begeisterung für alles Ägyptische gründete Hermann Bahlsens Marketingstrategie auf der altägyptischen Hieroglyphe TET.

    Foto: Heinrich Mittag/Bahlsen-Archiv Hannover

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    Erste Ideenskizze, 1916/17, gesüdet
    Abbildung: Bahlsen-Archiv Hannover © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

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    Erste Ideenskizze, 1916/17, gesüdet

    Abbildung: Bahlsen-Archiv Hannover © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

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    Bauantragsplan, August 1919, genordet
    Abbildung: Bahlsen-Archiv Hannover © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

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    Bauantragsplan, August 1919, genordet

    Abbildung: Bahlsen-Archiv Hannover © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

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    Die TET-Stadt von Nord-Ost aus gesehen, im Vordergrund die Fabrik; Zeichnung von Martel Schwichtenberg, 1917
    Abb.: Bahlsen-Archiv Hannover

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    Die TET-Stadt von Nord-Ost aus gesehen, im Vordergrund die Fabrik; Zeichnung von Martel Schwichtenberg, 1917

    Abb.: Bahlsen-Archiv Hannover

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    Das auf der Frühjahrsausstellung des Hannoveraner Kunstvereins 1917 gezeigte TET-Stadt-Modell. Blick auf den Vorplatz des Verwaltungsgebäudes, die Rückfront des Eingangstores, die TET-Säule und die Wohnstadt. Im Hintergrund das Verwaltungsgebäude als Detailmodell
    Modellfoto: Bahlsen-Archiv Hannover © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

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    Das auf der Frühjahrsausstellung des Hannoveraner Kunstvereins 1917 gezeigte TET-Stadt-Modell. Blick auf den Vorplatz des Verwaltungsgebäudes, die Rückfront des Eingangstores, die TET-Säule und die Wohnstadt. Im Hintergrund das Verwaltungsgebäude als Detailmodell

    Modellfoto: Bahlsen-Archiv Hannover © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Hannoveraner Ägyptomanie

Anfang des 20. Jahrhunderts ist Deutschland im Ägyptenfieber. Viele Architekten sind begeistert von den modernen Formen aus dem Land der Pharaonen, die sich wohltuend vom vorherrschenden Historismus abheben. Keksfabrikant Hermann Bahlsen nutzt die positiven Assoziationen, um mit der altägyptischen Hieroglyphe TET zu werben. Eine eigens errichtete TET-Stadt soll seine Arbeiter beherbergen und die Produktion von Backwerk in fast sakrale Sphären heben

Text: Bormann, Ralf, Hannover

„So lange die Maschinen eigentlich ihr Wesen treiben,“ schreibt Karl Friedrich Schinkel im Sommer 1826 von seiner Englandreise an seine Frau, werde das Land von Fabriken übersäht, „unter denen mehrere Gebäudeanlagen von der Größe des Königlichen Schlosses zu Berlin stehen, und ringsum ragen tausende von rauchenden Obelisken der Dampfmaschinen empor, deren Höhe von achtzig bis hundertundachtzig Fuß allen Eindruck der Kirchthürme zerstört. […]. Man ist sehr in Zweifel, was aus diesem furchtbaren Zustande der Dinge werden soll.“ Wie Schinkel früh beobachtete, traten die Fabriken nach und nach als die Kathedralen der modernen Industrie an die Stelle der Kirchenbauten. Der britische Architekt A. Welby Pugin stellte 1841 in zwei Radierungen diese konfligierenden Welten einander gegenüber: Wo 1440 noch gotische Kathedralen, Abteien und Gildehäuser das Stadtbild prägten, bestimmen 1840 die Ruinen dieser Bauten und in schlichter Architektur ausgeführte Fabriken, Speicher, Kraftwerke, Vergnügungsstätten, Irrenhäuser und der „Sozialistische Versammlungssaal der Wissenschaften“ die urbane Silhouette; im Vordergrund dieser schönen neuen Welt steht das „neue Gefängnis“ in der Gestalt eines Bentham’schen Panopticons.
Pugin war Vorgänger und Wegbereiter der Theorien John Ruskins, dem neben William Morris maßgeblichen Mitglied der Arts-and-Crafts-Bewegung im 19. Jahrhundert. Die zentralen Forderungen dieser Reformbewegung nach Materialgerechtigkeit aller Bautätigkeit und einer Veredelung der gewerblichen Arbeit wurden vom 1907 gegründeten Deutschen Werkbund geteilt, dessen Nähe der Bildhauer, Kunsthandwerker und dilettierende Architekt Bernhard Hoetger (1874–1949) von Anbeginn gesucht hat. Einige seiner Skulpturen waren auf der Kölner Werkbundausstellung 1914 zu sehen. 1916 erhielt Hoetger Besuch vom Hannoveraner Keksfabrikanten Hermann Bahlsen, der ihm umgehend zu seinem ersten Architekturauftrag verhalf: Dem Bau einer Backwarenfabrik mitsamt einer Wohnstadt für knapp 2000 Arbeiter. Die Stadt erhielt ihren Namen aus der vom Hannoveraner Heimatdichter Friedrich Tewes ersonnenen Übersetzung einer für „Ewigkeit“ und „Dauer“ stehenden altägyptischen Hieroglyphe: „TET-Stadt“. Damit wurde seit 1903, auf der Welle allgemeiner Ägyptomanie, eine besondere Verpackungsweise der Bahlsen-Kekse angepriesen.
Der Bildhauer knetet sich eine Stadt
Die erhaltenen Entwurfszeichnungen und Baupläne der TET-Stadt dokumentieren den Rangstreit zwischen der Kunst des expressionistischen Architekten Hoetger und den Bedürfnissen eines patriarchalischen Industriellen. Zwei geometrische Grundelemente bestimmen den Grundriss der Stadt, deren Formation im Entwurfsprozess bis zum Bauantragsplan von 1919, wenngleich dort recht verwässert, durchgehalten wird. Um einen Halbkreis aus Blockrandbebauung und Straßenzügen legt sich ein gleichschenkliges Dreieck. Dessen nördliche Seite verläuft, wie die Sehne des Halbkreises, entlang der Hannoveraner Podbielskistraße. Damit schreibt Hoetger der Stadt die Gestalt ein, die in einer das TET-Projekt begleitenden Broschüre von 1917 als „schematische Entwicklung der nordischen Form-Motive“ graphisch vorgestellt wird. Die senkrecht auf die Podbielskistraße zulaufende Seitenhalbierende des Dreiecks bildet eine breite Allee, in deren Achse die „TET-Säule“ steht. Das Wahrzeichen der geplanten Stadt sollte mit Kapitellschmuck, Getreideähren und Rindsköpfen unter einer zuckerhutartigen Haube den Bewohnern der Stadt die Zutaten der Bahlsen-Kekse, Mehl, Milch und Zucker, vor Augen stellen. Die nach Süden weisende Spitze des beschriebenen Dreiecks enthält das „TET-Theater“, das dieses Gestaltungsprinzip in seinem dreieckigen Grundriss mit einbeschriebener Kreisform, der Theaterkuppel, wiederholt. Hier war die Aufführung eigens für den Bahlsen-Konzern geschriebener Stücke geplant.
Nördlich dieser Formation, zwischen Podbielskistraße und heutigem Mittellandkanal, erstreckt sich das Fabrikgelände. Das Gebiet westlich davon, entlang des Kanals, hält der Erholung dienende Einrichtungen vor. Die Anlage des Fabrikkomplexes indessen unterwirft sich nicht abstrakten Vorgaben, sondern dem Verlauf der Podbielskistraße und des Kanals, wodurch eine trapezoide Fläche entsteht. Einem Horror vacui gehorchend reguliert Hoetger den äußeren Umriss des Fabrikkomplexes, indem er die unregelmäßigen Ecken vollständig mit Baumassen unterschiedlicher Stärke auffüllt. So erreicht er auch, dem zwischen Wohnstadt und der eigentlichen Fabrikanlage gelegenen Repräsentationsgebäude auf dem trapezoidem Baugrund einen rechteckigen Hof einzurichten. Den nördlichen Abschluss der auf die TET-Säule zulaufenden Mittelachse der Fabrik bildet ein Geviert, über dem der 75 Meter hohe Fabrikturm errichtet werden sollte.
Die Verteilung der Baumassen ist, entgegen der nicht zuletzt durch die Namensgebung der Stadt geweckten Erwartung, nicht im babylonischen oder ägyptischen Schachbrettmuster gehalten, sondern nähert mit der Gruppierung der Stadtteile um den Mittelpunkt der TET-Säule den Grundriss an das Hippodamische Schema an (freilich mit deutlichem Einschlag barocker Städtebaukunst). Hoetger pflegte, ganz Bildhauer, die architektonischen Kolossalentwürfe der Stadt in Skizzen und gekneteten Modellen anzufertigen, welche vom Baubüro der Bahlsen-Keks-Fabrik in ausführbare Bauzeichnungen übersetzt werden mussten. „Nicht die Konstruktion abstrakten Denkens, sondern sinnliches Denken, Denken in Material“ will der Kunsthistoriker Albert Erich Brinckmann 1920 in dieser Vorgehensweise erkannt haben.
Pläne aus der fortgeschrittenen Projektphase zeigen, welche gestalterische Entwicklung der Entwurf nahm, nachdem die Bauplanungen sukzessive in die Hände von Bahlsens Baubüro gelangten. Zuvörderst wird der Entwurf versachlicht. Die deutlichste Veränderung im ersten Bauplan von 1918/1919 gegenüber der vorangegangenen Zeichnung Hoetgers gilt dem Platz mit der TET-Säule. Die Wohnbebauung trifft mit ihrer Mittelachse, der TET-Straße, nicht länger im rechten Winkel auf die Podbielskistraße; und der an die Podbielskistraße grenzende Fabrikkomplex sucht nicht mehr, seinen trapezoiden Baugrund mit Wandstärken auszugleichen. Stattdessen wird nun erstmals eine gerade Achse durch die gesamte Stadtanlage erreicht. Den störenden Effekt einer diese im Winkel von zehn Grad asymmetrisch durchkreuzenden Podbielskistraße vermeidet der Urheber dieser Lösung mit der Einführung von zwei zusätzlichen, mit der Ein- und Ausmündung der Podbielskistraße auf dem Platz spiegelbildlich korrespondierenden Straßenzügen. Deren rein ästhetische Bestimmung zeigt sich besonders an der nordwestlichen Seite des Platzes, wo der Straßenarm nach wenigen Metern abrupt endet. Eine solche Platzanlage in der Gestalt eines Andreaskreuzes findet sich wenige Jahre zuvor, gewissermaßen halbiert, in Hendrik Petrus Berlages Plan Zuid, der Stadterweiterung im Süden Amsterdams, am dortigen Y-förmigen Victorieplein. Damit ist zu den möglichen städtebaulichen Inspirationsquellen des gesamten TET-Projekts eine verheißungsvolle Fährte ausgelegt. Dennoch kann man die TET-Stadt nicht als Teil der Gartenstadtbewegung begreifen. Mit ihrer bei fortschreitender Planung immer rigoroseren axialen Ausrichtung der Wohn- und Erholungsstätten auf die Keksfabrik und ihre Firmensymbole – beispiellos, selbst zur großkapitalistischen Hochzeit der Gründerjahre –, die ein allzu gesteigertes Ausdrucksbedürfnis Hermann Bahlsens offenbart, nähert sich die TET-Stadt-Planung vielmehr an die absolutistische Architektur-Utopie Chaux des Claude-Nicolas Ledoux an.
Die Planungen zur TET-Stadt durchliefen weitere Purifikationen und mündeten schließlich im Bauantragsplan vom August 1919. „Ich wandere durch die Straßen und erlebe die fabelhaften Blicke und Überraschungen“, schreibt Hoetger 1919 in einem Brief an Hermann Bahlsen über seine Verfolgung der städtebaulichen Ideale Leon Battista Albertis und Camillo Sittes. Eine Stadt, wie die letzten Bauantragspläne sie zeigen, konnte er damit nicht mehr gemeint haben.
Konservativer Expressionismus
Sowohl die städtebauliche Anlage als auch die Aufrisse der Baumassen der Stadt lassen sich recht gut in das zeitgenössische Baugeschehen in Deutschland einordnen und offenbaren außerordentlich moderne, wiewohl von Hoetger mit der Fortune eines Dilettanten übernommene, städtebauliche Vorbilder. Die Planungen zur TET-Stadt fielen in die endende Ära des Hannoveraner Stadtdirektors Heinrich Tramm, unter dessen Ägide es zu einer exorbitanten Entfaltung städtebaulicher Aktivität gekommen war. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschte noch der Klassizismus Georg Ludwig Friedrich Laves’ das Baugeschehen in Hannover; der Laves-Schüler Christian Heinrich Tramm indessen, Vater des späteren Stadtdirektors, etablierte an seiner niedersächsischen Wirkstätte den Rundbogenstil seines Münchner Lehrers Friedrich Wilhelm von Gärtner. Fortan wurde überwiegend im „Tramm-Stil“ gebaut, wie ihn das von Tramm errichtete Welfenschloss (ab 1856) aufweist; anders als dort fand meist der heute in Hannover allgegenwärtige, unverputzte rote Ziegelstein Verwendung. Unter Tramms Sohn Heinrich wiederum stand der Historismus hoch im Kurs, der am Neuen Rathaus (1901–1913) und an Hubert Stiers Neubau des Hauptbahnhofs Urstände feierte. Wie überall in Deutschland machte sich aber auch in Hannover zunehmend Verdruss über die im Wilhelminismus bevorzugten historistischen Architekturformen geltend. So ging der Auftrag für den Entwurf des Verwaltungsgebäudes der Continental AG (1912) an einen der Wegbereiter der Neuen Sachlichkeit, Peter Behrens, 1911–1914 wurde die neoklassizistische Stadthalle nach Entwürfen von Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer errichtet.
In diesem Kontext bewegte sich auch Hoetger, der mit seinen Entwürfen wohl keine dezidiert ägyptische Bauikonologie verband. Erst 1924, fünf Jahre nach dem endgültigen Scheitern seiner TET-Stadt-Planungen, bereiste er Ägypten – Bonatz besuchte das Land bereits 1913, im Vorjahr seines Entwurfes zum Stuttgarter Hauptbahnhof. So kann man in den getreppten Dachaufsätzen der Torbauten beidseits der TET-Säule die Vorbilder mesopotamischer Zikkurate, der Djoser-Stufenpyramide in Sakkara oder dravidischer Tempelbauten wiedererkennen wollen – das zeitgenössische Formenrepertoire des Backsteinexpressionismus lädt zu durchaus näherliegenden Vergleichen ein, z.B. mit dem in der norddeutschen Backsteingotik verbauten Staffelgiebel des Flensburger Nordertors.
Der gegen die Stilpluralismen des Historismus gewandte konservative Expressionismus, wie im Falle der TET-Stadt-Entwürfe Hoetgers, ahmte nicht historische Vorlagen nach, sondern entdeckte, als ein Kunstwollen sui generis, in den vermeintlich unverbildeten Monumenten Ägyptens und Mesopotamiens im Wortsinne primitive Wahlverwandte des eigenen, expressiven Ausdrucksverlangens. Walter Gropius, traditionalistischer Neigungen durchaus unverdächtig, präsentierte 1914 auf der Kölner Werkbundausstellung seine Musterfabrik, deren gläserne Seitentürme und pylonenartiger Eingang seine Zeitgenossen an ägyptische Sepulkral- und Tempelarchitektur denken ließen. „Ich werde nach Ägypten gehen. Asien ist aktuell“, schreibt auch Le Corbusier 1911.
Den Historismus der Gründerzeit versuchte Hoetger, der seine Bauideen „in Demut“ als „Gnade der Intuition“ empfangen haben will, durch den Genius Loci Niedersachsens zu überwinden, der freilich nicht selten bemüht wirkt. Der Eklektiker Hoetger verschrieb seinen Backsteinexpressionismus (wie auch die Amsterdamer Schule, die skandinavische Nationalromantik, die Stuttgarter Traditionalisten und sogar die Neue Sachlichkeit) den Forderungen der Heimatschutzarchitektur nach handwerklicher Verwendung ortsüblicher Bauformen und -materialien in traditioneller Bauweise. Wenn man in den von Hoetger komponierten Kubaturen nach Zitaten suchen möchte, dann liegen als Vorlagen die Bauschöpfungen Hendrik Petrus Berlages nahe, dessen unverputzter Backsteinbau der Amsterdamer Börse, wie die TET-Bauten Hoetgers, deutliche Anleihen an romanischer Kirchenbaukunst nimmt.
Die Sakralisierung der Keksfabrik
Mit seinen 75 Metern Höhe hätte sich der TET-Fabrik-Turm, laut Bahlsen das „charakteristische Bollwerk unserer TET-Fabrik“, in der Stadtsilhouette Hannovers der Kuppel des Neuen Rathauses und dem Turm der Marktkirche von je 100 Metern beigesellt. Für seine Gestaltung mögen romanische Kirchtürme wie die von St. Patrokli in Soest und des Paderborner Doms Pate gestanden haben. Für die Funktion des Bahlsen-Turmes als Wasserreservoir und Schlot der Keksfabrik war möglicherweise die 1908/1909 ausgeführte Tabakfabrik Yenidze in Dresden vorbildlich, deren Anmutung einer Moschee auch durch einen minarettartigen Turm hervorgerufen wird, der zugleich als Schornstein diente. Als umbilicus sueviae, Nabel Schwabens, wurde Bonatz‘ 1916 fertiggestellter, 56 Meter hoher Turm des Stuttgarter Hauptbahnhofs bezeichnet; mit dem Turm der TET-Fabrik mögen Hoetger und Bahlsen sich an einem umbilicus saxoniae inferioris versucht haben.
Die Industriestadt, so Bruno Taut 1919, sei ein Rumpf ohne Kopf: „Ist das unser Abbild, ist so unsere geistige Verfassung? Wir sehen die alten Städte an und müssen resigniert sagen: Wir haben keinen Halt.“ In seiner Schrift zur „Stadtkrone“ sucht er in der Architekturgeschichte nach den verflossenen Symbolen des Gemeinschaftslebens, die in einer städtebaulichen Neuauflage mächtig genug zu sein versprächen, sich gegen die auch in Hannover wahrgenommene ausdrucks- und anschlusslose Monstrosität einer amorph wuchernden Industriestadt behaupten zu können. Hoetgers und Bahlsens Grundrisse der TET-Stadt, mit ihren Plätzen und Straßen nach dem Vorbild der antiken griechischen Agora und des römischen Forums, zeugen von der Suche nach einer Gemeinschaft stiftenden Wirkung. Auffälligerweise verzichten sie auf einen explizit sakralen Bau. Stattdessen wird offenkundig eine Sakralisierung der Arbeits- und Repräsentationsstätten angestrebt. In dem neu zu schaffenden Stadtgebilde soll die Kultur der Bewohner ihre Werte nicht länger von der Religion, sondern vom Produktionsprozess empfangen.
So ist die Fassade des von Bahlsen so genannten Repräsentationsgebäudes mit ihren Blendarkaden dem Aufriss der Mittelschiffwände des Speyerer Doms vergleichbar. Von außen lässt nichts auf den exotisch mit Pfeilern überfüllten Binnenraum des Baus schließen. Hoetger wendet sich dezidiert gegen den weitgehend stützenlosen, von ihm als „Laubsägearbeit“ verunglimpften Stahlbetonbau in der Manier eines Tony Garnier, dem Wegbereiters des Neuen Bauens. Sein Pendant in der Cité industrielle Garniers (1917) ist darüber hinaus, in sozialistischer Verklärung seines Gemeinschaft stiftenden Zwecks, als eine Versammlungshalle ausgewiesen, während dem Repräsentationsgebäude der TET-Stadt eine nachgerade sakrale Funktion zugedacht war.
Dazu passend erfährt die ausgediente abendländische Drei-Stände-Ordnung, bestehend aus Klerus, Adel und Bauern, ihre paternalistische Umdeutung. Der Ackersmann, so ein zeitgenössischer Rezensent, werde zum Arbeiter, und „an die Stelle des Priesters und des Ritters ist der Fabrikant getreten [...], die neue Stadt soll sich demnach um die Fabrik bilden, wie sich die alte um Heiligtum oder Burg bildete.“ Die TET-Säule verkörpert dabei eher das mäzenatische Gönnertum eines Einzelnen, als dass sie einen angenommenen Volkswillen wiedergäbe, wie dies Tony Garnier mit seiner zeitgleichen Cité industrielle angestrebt hat. Die Säule, so Hoetger 1919 in einem Brief an Bahlsen, sei als ein Scharnier zwischen den Wohn- und Arbeitsstätten der TET-Stadt „unmöglich zu entbehren, denn sie ist für die Stadt nicht nur Orientierungspunkt, sondern auch geistiger Orientierungspunkt für den Sinn der Fabrik.“ Der von der Straßenführung stets gewährleistete Zulauf auf die 35 Meter hohe TET-Säule sollte jedermann daran erinnern, wessen Großzügigkeit er diese schöne neue Lebenswelt zu verdanken hatte.
Hoetger wollte mit der TET-Stadt ein expressionistisches Gesamtkunstwerk aus dem Boden emporwachsen lassen. Den Versuchen Bahlsens, die Bautantiemen des Künstlers zu beschneiden, begegnete er mit einer geradezu inflationären Schaffung von Flächen, die er exklusiv zu skulpieren versprach. Ein begeisterter Rezensent bejubelt den 1917 der Öffentlichkeit im Kunstverein Hannover präsentierten TET-Stadt-Entwurf: „Hoetger wollte im Direktionsgebäude große Säle schaffen und einen davon nur mit der vergoldeten Statue der TET-Göttin schmücken. Nichts sonst sollte der Raum enthalten! Weihestimmung! Zu diesem Raum sollte man durch einen Säulenhof gelangen, um so die Weihestimmung zu heben.“ Der Grundriss des beschriebenen Saals hat die Struktur einer christlichen Umgangsbasilika. Auch von der TET-Göttin hat sich eine Entwurfszeichnung Hoetgers erhalten. Die ein Kind in den Händen haltende Gestalt zehrt – freilich in vollständiger Nacktheit gezeigt – von der Bildgewalt der abendländischen Marienikonographie. Die Getreidezier des Skulpturensockels verweist nicht nur auf das Geschäft mit der Produktion von Keksen, sondern spielt auch auf das eucharistische Geschehen der christlichen Messfeier an.
Geldmangel und uneinsichtige Arbeiter
In einem Brief an Bahlsen aus dem Jahr 1919 beschreibt Hoetger die TET-Stadt als „moderne nordische Architektur“, welche eine „Verbindung von Künstler und Architekt, so wie in alter Zeit, in der Zeit der Dome, unbedingt erforderlich“ mache. Nichts Geringeres als „den Sinn der heutigen Welt“ möchte Hoetger in den von ihm modellierten Formen aufgehoben wissen. Bei derlei hochgegriffenen Selbstvergleichen droht die Gefahr eines Leerlaufens des eingesetzten Formenapparates. In einer Besprechung der von Hoetger und Martel Schwichtenberg besorgten Innenausstattung der 1911 fertiggestellten Bahlsenzentrale stellt Adolf Behne 1920 spöttisch den „Fabrikbau als Reklame“ bloß. „Durchschreitet man die Fabrik, so erstaunt man immer von neuem über die Fülle leerer Räume [...], die man als kleine Museen oder Kapellen eingerichtet hat. [...] Es ist nicht ganz leicht zu schätzen, wie viele menschliche Tugenden und Laster sich an den Wänden dieses, dem heiligen TET geweihten Verkaufsraumes ein sinnbildliches Stelldichein geben. In zahllosen Abwandlungen [...] drückt sich Freude, Glück, Sehnsucht, Schmerz, Erhebung, Ermattung usw. aus. Offenbar aber müssen doch alle diese seelischen Erschütterungen irgendwie mit der hier verkauften Ware im Zusammenhang stehen.“ Diesen weihevollen Parcours abwandernd, gelange der nun hinreichend vorbereitete Besucher der TET-Fabrik schließlich an eine Treppe, die neue Rätsel bereithalte. „Was wartet unser am Ausgang der Treppe? Geht es hier etwa zu den mit Maschinengewehren bewachten Geldschränken? Lagern oben die apokalyptischen Rezepte des TET? Unsere Aufregung ist umsonst. Garnichts erwartet uns, [...] nichts, was einer Hinrichtung oder einer Schreckenskammer vergleichbar wäre, wenn man nicht etwa den Bodenabschnitt, in dem Hötgers Modell der TET-Stadt aufgebahrt ist, so nennen will.“
Nicht nur Behne war entgeistert. In dem Briefwechsel zwischen Hoetger, dem Künstler, und seinem Auftraggeber, dem in den Kriegsjahren zunehmend unter ökonomischen Druck geratenden Keksfabrikanten, ist das unausweichliche Zerwürfnis deutlich herauszulesen. Hoetger sei, „wie die Erfahrung beim bisherigen Projektieren gelehrt hat, nicht in der Lage […], ein Architekturbüro beim Bauen rationell und sachgemäß zu leiten“, notiert Bahlsen in einem Vertragsentwurf. Im Übrigen, so Bahlsen später gegenüber Hoetger, habe dieser „mit dem TET-Projekt nichts mehr geleistet […] als das Notwendigste.“ Das 1917 von Hoetger hergestellte Tonmodell der Stadt sei allenfalls „als Idee [zu] betrachten, eine praktische Ausführung danach“ indessen „natürlich ausgeschlossen“. Dieser Einschätzung wusste Hoetger freilich nichts abzugewinnen. Wenn es Schwierigkeiten bei der Umsetzung seiner Entwürfen gebe, sehe er die Ursache nicht bei ihm; vielmehr fehle „nur noch die innere Belebtheit der Gesinnung durch die noch zu weckenden wahren Interessen der Arbeiter für den Gesamt-Kult der Tätigkeit [...]. Unauslöschlich und groß – ein Kultus der Arbeit und Lebensfreude [...]. Man sieht die Dinge heute nüchtern, man weiß noch nicht, worum es geht, aber die Zeit kommt, wo man eine solche Arbeit wegen ihres Inhalts begreift und liebt.“
Die uneinsichtigen Fabrikarbeiter ließen sich indes nicht überzeugen, Hoetgers Philanthropie zu begreifen und zu lieben. Wider Erwarten durch seine Kunsterzeugnisse nicht in Entzücken versetzt, wussten sie auch
die Großzügigkeit des Keksfabrikanten nicht recht zu schätzen. Es sei künstlerische Zurückhaltung zu üben, um einen Aufruhr zu verhindern, so Bahlsen. „Wir müssen uns beschränken, das Herrenzeitalter ist vorbei, die Arbeiter haben das Wort“, konstatiert der Fabrikant im Mai 1919 in einem Brief an Hoetger. Er sieht sich dem Vorwurf seiner Arbeiter ausgesetzt, er habe „Reserven, die ihnen von Rechts wegen zukommen sollten, für Kunst ausgegeben […]. Wir können weder die TET-Säule bauen, noch die unrationellen Schrägen, denn die demnächstigen Betriebsräte werden niemals ihre Einwilligung geben.“ Um den darüber erzürnten Künstler zu beschwichtigen, verspricht der Industrielle, ihm die neuen Entwürfe der Vergnügungsstätten für das politisch erstarkende Proletariat vorzuführen: „An Stelle des Theaters steht in einem wundervollen Teich ein entzückendes Kaffeehaus (Schummermusik auf dem Dach, auf dem Wasser Gondelfahrt). Sie erhalten demnächst eine Fotografie.“ Im August 1919 erreicht der von Bahlsens Baubüro deutlich reduzierte Bauantragsplan die zuständigen Behörden, im November stirbt Hermann Bahlsen. Auf dem Gelände der Utopie gebliebenen TET-Stadt entstand 1929–1931 durch Adolf Falke, einen Mitarbeiter Hoetgers, die funktionalistische Wohnbebauung der „Liststadt“, ausgeführt in hell verputztem Klinker.
Fakten
Architekten Hoetger, Bernhard (1874–1949)
aus Bauwelt 24.2015
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