Bauwelt

Die Traumstadtfabrik

War Walt Disney ein begnadeter Stadtplaner? Lässt sich die Stringenz seiner Themenparks auf eine Metropole übertragen? Im letzten Großprojekt vor seinem Tod hat er es versucht. Die „Experimental Prototype Community of Tommorow“ sollte ein Versuchslabor werden, für den Städtebau wie für die Industrie – und, so Robert Moses, die erste unfallfreie, lärmfreie, schadstofffreie Stadt Amerikas

Text: Gennawey, Sam, Pasadena

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    Disney schwebte eine Stadt mit hoher Dichte und ausgeklügeltem öffentlichen Verkehr vor, in der man, einmal angekommen, freiwillig auf das Auto verzichten würde
    Foto: Jeff Williams / www.the-original-epcot.com

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    Walt Disney erklärt das Stadtzentrum
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    Die meisten der 20.000 Einwohner würden in Apartmentblocks rund um die Innenstadt wohnen.
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    Es waren aber auch Einfamilienhausgebiete geplant.
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    Eine Synagoge
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Die Traumstadtfabrik

War Walt Disney ein begnadeter Stadtplaner? Lässt sich die Stringenz seiner Themenparks auf eine Metropole übertragen? Im letzten Großprojekt vor seinem Tod hat er es versucht. Die „Experimental Prototype Community of Tommorow“ sollte ein Versuchslabor werden, für den Städtebau wie für die Industrie – und, so Robert Moses, die erste unfallfreie, lärmfreie, schadstofffreie Stadt Amerikas

Text: Gennawey, Sam, Pasadena

Walt Disney wurde zunächst als Trickfilmzeichner berühmt und war später ein erfolgreicher Film- und Fernseh-Produzent. Für Stadtplaner jedoch war Disneys größte Leistung Disneyland. In einer Grundsatzrede vor der Urban Design Conference an der Harvard University im Jahr 1960 brachte James W.Rouse es auf den Punkt: „Ich vertrete eine Meinung, die für eine so erlesene Zuhörerschaft wie diese vielleicht etwas schockierend klingt: nämlich, dass das großartigste Beispiel von Stadtgestaltung in den heutigen Vereinigten Staaten Disneyland ist. Wenn Sie sich vor Augen führen, was Disneyland im Verhältnis zu seinem Zweck leistet, was es Menschen bedeutet – ja, was es für unsere Entwicklung insgesamt bedeutet – werden Sie es als das herausragende städtebauliche Beispiel in den Vereinigten Staaten erkennen.“
Es war kein Laie, der da sprach. James Rouse war einer der einflussreichsten und erfolgreichsten Immobilienentwickler der vorangegangenen fünfzig Jahre. Rouse schuf auf ehemaligen Industriegeländen Einkaufszentren, die stark narrativ ausgerichtet waren. Ferner entwickelte er das Konzept des „festival marketplace“, wie es z.B. in der Faneuil Hall in Boston, im Harborplace in Baltimore und im Viertel South Street Seaport in New York City verwirklicht wurde; zudem war er maßgeblich an Entwurf und Bau der Planstädte Columbia in Maryland und Reston in Virginia beteiligt. Rouse führte im weiteren Verlauf seiner Rede aus, warum er so eine kühne Behauptung aufstellen konnte: „Walt nahm sich einen Funktionsbereich vor – den Themenpark – und hob ihn auf ein so hohes Niveau, in dem was er leistete, in der Art und Weise, wie es den Bedürfnissen der Menschen diente, dass daraus wirklich etwas ganz und gar Neues wird. Es werden alle Zwecke erfüllt, die man sich vorgenommen hat, selbstbewusst, nützlich und gewinnbringend für Eigentümer und Entwickler.“ So versicherte er seinen Zuhörern: „Von den Maßstäben, die bei der Entwicklung von Disneyland gesetzt wurden, und von den Zielen, die dabei erreicht wurden, kann ich mehr lernen als von jedem anderen Stück Entwicklung im Land.“
Was wäre also passiert, hätte Walt Disney eine eigene Stadt gebaut? Er hat es versucht. 1959 spielte er zum ersten Mal ernsthaft mit dem Gedanken. Disney stieß sich an der regellosen Bebauung um seinen Park in Anaheim. Er nannte es ein „zweitklassiges Las Vegas“. Dann bot ihm der exzentrische Milliardär John D. MacArthur ein knapp 5000 Hektar großes Grundstück in Palm Beach, Florida, an, auf dem er ein 162 Hektar großes Ostküsten-Disneyland bauen konnte – und die Stadt, die es umgeben sollte. Nach Erhalt des Angebots las Disney alles, was er über Stadtplanung finden konnte. Seine unersättliche Neugier führte ihn zu den Schriften von Ebenezer Howard, der als Erfinder der Gartenstadt gilt, und zu Schwedens Hauptstadt Stockholm mit ihren Satellitenstädten. Der Entwurf, den er schließlich vorlegte, war stark beeinflusst von dem, was der gebürtige Wiener Architekt und Stadtplaner Victor Gruen für die 1964 in Washington D.C. geplante Weltausstellung entworfen hatte. Letztendlich fand die Ausstellung, zu deren Erfolg Disney maßgeblich beitrug, in New York statt. Aber die Pläne für eine 100.000 Einwohner fassende Fächerstadt, die nach Ende der Ausstellung unter Verwendung der vorhandenen Infrastruktur hatte entstehen sollen, prägten sich Disney ein.
Die Experimentierstadt
Disneys Bruder Roy ging nach Florida, um das Geschäft mit MacArthur abzuschließen, doch die Verhandlungen scheiterten und MacArthur zog sich zurück. Aber Disney war jetzt auf die Idee fixiert und sah sich in Florida nach einem anderen Standort um. Nach umfangreichen Recherchen erwarb er schließlich anonym gut 11.000 Hektar Land in Zentralflorida, in der Nähe der kleinen Stadt Orlando. Er nannte sein Stadt-Projekt EPCOT, „Experimental Prototype Community Of Tomorrow“. Er war der Überzeugung, die Probleme unserer Städte könnten durch respektvolle, auf zeitlosen Prinzipien gründende Stadplanung und technische Innovationen gelöst werden. EPCOT würde Unternehmen die Gelegenheit geben, ihre Erzeugnisse unter realistischen Bedingungen zu testen und deren Vorzüge einer großen Öffentlichkeit vorzustellen – und das alles unter dem Heiligenschein Disneys. Alle Wohnungen in dieser Modellstadt wären bestens mit den neuesten Geräten ausgestattet. Die Einwohner würden sich in „Fokus-Gruppen“ beteiligen, um die Marktchancen der neuen Technologien zu bewerten. In einem internen Bericht hieß es: „Die amerikanische Industrie wird es zum Leben erwecken. Es wird ein ‚Denkprojekt‘ sein, keine ‚Denkfabrik‘. Und es geht nicht nur um denken – hier werden diese Dinge auch tatsächlich funktionieren.“ Das war durchaus realistisch, schließlich gründete Disneys gesamte Karriere darauf, dass er Technologien nutzte, bevor seine Zeitgenossen deren Potenzial erkannten. Dadurch, dass er frühzeitig und erfolgreich Ton-Bild-Synchronisation, Farbe, die Multiplan-Kamera (wodurch Zeichentrickfilme Tiefe bekamen) und andere Technologien einsetzte, war er der Konkurrenz stets um Jahre voraus. Da verwundert es nicht, dass es ihm so reizvoll erschien, eine Stadt zu bauen, die „zum Schaufenster für die ganze Welt“ werden würde, „in dem sich das freie amerikanische Unternehmertum präsentieren kann.“
Disneys „Experimentierstadt“ sollte eine Welt ohne optische Widersprüche werden, in der Besucher die chaotische Betriebsamkeit des Alltags hinter sich lassen konnten. Diese Architektur der Versicherung war das Markenzeichen des Disney-Design, das in Disneyland entwickelt wurde. Sie bewirkte, dass Besucher sich entspannen und offen sein konnten für alles, was vor ihnen lag. In einem Artikel der New York Times aus dem Jahr 1958 hieß es, Disney habe „dieselbe Bereitwilligkeit, sich überzeugen zu lassen, geschaffen, die seit jeher das Erfolgsgeheimnis des Theaters gewesen ist.“ Ferner hieß es: „Im Theater ist nicht Realismus die entscheidende Komponente, sondern die Mischung von Wirklichkeit und Fantasie. Der Unterhalter lädt das Publikum ein, ihm auf halbem Wege entgegenzukommen. Genau das ist in Disneyland erfolgreich verwirklicht.“ Bei einer Pressekonferenz im November 1965 sagte Walt Disney: „Ich würde gerne eine Modellgemeinde errichten, gewissermaßen eine Stadt von morgen, weil ich nicht an dieses extrem realitätsfremde Zeugs glaube, wie so manche Architekten. Ich glaube, die Menschen wollen immer noch ... wie Menschen leben.“
Naturschutz und Kalkül
Walt Disney erarbeitete persönlich das Gesamtkonzept, von dem man auch mit fortschreitendem Planungsprozess nicht mehr wesentlich abwich. In seiner ersten Skizze kennzeichnete er die Bebauungsgebiete und platzierte die wichtigsten Funktionsbereiche und Verkehrsknotenpunkte. Von dieser groben Skizze bis zum endgültigen Plan, der kurz vor seinem Tod vorbereitet wurde, blieb die prinzipielle Anordnung der Landnutzungen mehr oder weniger dieselbe. Wie Disney sagte: „Hier gibt es mehr als genug Land für alle unsere Ideen und Pläne.“ EPCOT wäre das Herz von Disney World gewesen. Die verschiedenen Bereiche von „Disneys Welt“ waren entlang eines von Süden nach Norden verlaufenden multimodalen Transitkorridors angeordnet. Am Südende, an der Kreuzung von Interstate 4 und Floridas Turnpike (die damals noch Sunshine State Parkway hieß), wäre der Eingangskomplex. Am nördlichen Ende wäre der Magic-Kingdom-Themenpark, der die Besucher anziehen würde wie eine Glühbirne die Motten. Dazwischen lag ein Industriepark und die Stadt EPCOT. Die bebauten Bereiche entlang des Verkehrskorridors waren auf drei Seiten – im Norden, Osten und Westen – durch Naturgebiete eingegrenzt.
Der Entwurfsprozess fand vor dem Erscheinen von Design with Nature (1969) des schottischen Landschaftsarchitekten Ian McHarg statt, folgte aber ähnlichen Prinzipien. Disney-Planer Marvin Davis bestimmte zunächst ökologisch sensible Bereiche, die man unbedingt erhalten wollte. Die natürlichen Feuchtgebiete am Rande des Geländes dienten zur Abgrenzung des Bebauungskorridors und als landschaftliche Pufferzonen, die die Stadt vor direkt angrenzender Bebauung schützten. Sie wurden dauerhaft als Naturschutzgebiete ausgewiesen. Als nächstes wählte man zusätzliche Freiflächen aus, die eine etwas subjektivere Bewertung zuließen: Gebiete, die bebaut werden konnten, aber nicht bebaut werden sollten, weil sie für das Projekt andere Vorzüge, u.a. einen ästhetischen Wert hatten. Hier bewies Disney Weitblick. Innerhalb dieser freien Flächen gäbe es kleinere, für kontrolliertes Wachstum bestimmte Gebiete. Bebauungsflächen waren den erhaltenswerten Naturflächen untergeordnet. Neben dem Themenpark, der Stadt und dem Industriepark waren u.a. Resorts, ein Golfplatz und ein „swamp ride“ zur Besichtigung der Sumpfgebiete geplant.
Manchmal diktierte die Funktion einer bestimmten Einrichtung ihren Standort. So erklärte Disney, dass sich der Themenpark am nördlichen Ende des Areals befinden müsse, so, dass die Besucher ihn nur erreichen konnten, wenn sie vorher die anderen Gebiete durchquerten. Der Eingangskomplex wiederum musste nahe der größeren Fernstraßen liegen und der Jetport abseits der Bereiche, in denen sich die meisten Menschen aufhielten. Diese Anordnung bedeutete, dass eine der überschwemmungsanfälligsten Flächen mit dem Themenpark bebaut werden musste. Daher wurde ein Großteil der Agrarflächen am Rande der Stadt für das komplexe Entwässerungssystem bestimmt, das die von Disney gewünschte Bebauung ermöglichte. Dieses System besteht aus 70 Kilometern Kanälen, 29 Kilometern Deichen, 13 Wasserkontrollanlagen und mehr als 4000 Hektar, die als Abfluss in Seen, Wasserstraßen und Feuchtgebiete dienen. Das System war so gut angelegt, dass es auf den benachbarten Grundstücken nie zu Überschwemmungen kam.
Das Nahverkehrspuzzle
Disney wollte das ultimative „Transit Oriented Development“ bauen, mit Dichte, Design und Diversität. Besucher, die mit dem Flugzeug nach Orlando kamen, konnten auf dem Jetport landen, Disneys eigenem „Flughafen der Zukunft“ in Osceola County. Wer mit dem Auto anreiste, würde vermutlich beim Eingangskomplex parken. Andere würden über ein Straßennetz, das unter der Monorail verlief, direkt zu ihrem Ziel fahren. Das Hochgeschwindigkeits-Nahverkehrssystem der Monorail würde beinahe über die gesamte Länge des Areals verlaufen. Es diente jedoch nicht nur der Beförderung. Disney fand es wichtig, Besuchern einen Blick auf kommende Attraktionen zu bieten – seien es seine Filme, seine Fernsehshow oder der Themenpark. Daher ließ er die Monorail so verlaufen, dass sie auf dem Weg zum Themenpark durch alle Bereiche der Stadt fuhr. Für eine spätere Phase waren zusätzliche Trassen geplant, die zu mehreren Motel-Clustern und einem weniger dicht bebauten Bereich führen würden.
Die erste Anlaufstelle für die meisten Besucher wären der Eingangskomplex und das Anmeldezentrum. Ab dort würden sie Disney-Transportmittel nutzen, ganz in Disneys Sinne. Er wusste, dass Disney World und EPCOT so entworfen werden mussten, dass sie den Realitäten des Autos Rechnung trugen, doch hoffte er, dass Bewohner und Besucher, die per Auto kamen, bereit wären, es abzustellen, wenn ihnen eine attraktive, effiziente Form des Nahverkehrs angeboten würde. Disney hatte genug Menschenkenntnis, um zu wissen, dass Besucher wie Wasser waren; sie würden immer den Weg des geringsten Widerstandes suchen.
Alle Straßen und Verkehrsträger würden zur mehrstöckigen „Transportation Lobby“ führen, dem Herzen von EPCOT. Dort könnten die Besucher sich mühelos orientieren und umsteigen. Die unterste Ebene wäre Versorgungsfahrzeugen vorbehalten, die mittlere Ebene dem Autoverkehr, die oberste Ebene dem Bahnsystem, das über den Fußgängerwegen verlaufen würde. Der Entwurf berücksichtigte in erster Linie die Bedürfnisse von Fußgängern und jenen, die öffentliche Nahverkehrsmittel benutzten und sollte von der Benutzung des Autos abhalten.
Die Monorail war seit 1959 in Disneyland in Betrieb und hatte bewiesen, dass sie zuverlässig funktionierte und einen qualitativ hohen Service bot. Walt Disney war überzeugt, dass er mit ihr das nahverkehrstechnische Rückgrat für seine Stadt gefunden hatte. Das „WEDway PeopleMover-System“ war die Antwort auf ein weiteres entscheidendes Stück des Nahverkehrspuzzles. Disney brauchte ein zuverlässiges intermediäres Beförderungssystem, das sternförmig um die Transportation Lobby angelegt war. Der PeopleMover, eine Weiterentwicklung des auf der New Yorker Weltausstellung von 1964–65 verwendeten Beförderungssystems, hatte minimale Zugfolgezeiten. Fahrgäste würden nie länger als drei Minuten auf den nächsten Zug warten müssen, und wenn ein Zug nicht schon im Bahnhof war, konnte der Fahrgast einen Knopf drücken, um einen zu rufen. Mit nachlassender Nachfrage würden überschüssige Züge zurück ins Depot verlegt werden. In einem Film, der kurz vor Walt Disneys Tod im Jahr 1966 produziert wurde, erklärte der Ansager: „Hier wird der Fußgänger König sein, wird ohne Angst vor motorisierten Fahrzeugen umherschlendern können. Nur strombetriebene Fahrzeuge werden über die Straßen von EPCOTS Central City fahren.“ Der „Superplaner“ von New York City, Robert Moses, war von dem Konzept so beeindruckt, dass er behauptete, EPCOT würde das „erste unfallfreie, lärmfreie, schadstofffreie Stadtzentrum Amerikas“ werden.
Hohe Dichte versus Suburbia
Die auffallendste bauliche Anlage der Stadt wäre das etwa 20 Hektar große, elliptische Stadtzentrum. Aus seiner Mitte, unmittelbar über der Transportation Lobby, würde das 30-Stockwerke hohe, gemischt genutzte Cosmopolitan Hotel herausragen (entworfen vom Architekten George Rester). Eine Luftansicht dieses Baus wurde als ein von dem Schweizer Surrealisten H.R. Giger gezeichneter Augapfel beschrieben. Ausgehend von dem Erfolg von Victor Gruens überdachten Einkaufszentren und dem Astrodome in Houston, wollte Disney die Straßen im Zentrum überdachen, um seine Gäste vor den heißen Sommern Floridas zu schützen – und vollständige Kontrolle über den Raum zu haben. Das würde EPCOT zu einem Prototypen machen, der sich überall reproduzieren ließ.
Innerhalb des Zentrums wären etwa 8,7 Hektar (43 Prozent) für Einzelhandel und Gastronomie reserviert. Das Nahverkehrsnetz und andere Einrichtungen des öffentlichen Raumes würde 6,5 Hektar (32 Prozent) beanspruchen; die restlichen 5 Hektar (25 Prozent) hätten andere Nutzungen, wie Büros, ein Fernsehstudio, Banken, Servicebetriebe und Lagerflächen. Hinzu kämen städtische Funktionen wie Gemeindeverwaltung, eine Feuerwehr, Post, Bücherei und ein Krankenhaus. Entlang des äußeren Randes der überdachten Anlage lägen in einem dicht bebauten Ring die Niederlassungen der Unternehmen, die sich an dem Projekt beteiligten und ein weiterer Ring mit Apartmentblocks. Jenseits davon gäbe es einen Grüngürtel mit Freizeiteinrichtungen für alle Altersgruppen, Kirchen und großzügige Parkflächen sowie lockerer bebaute Wohngebiete.
Auf die Frage, warum es überhaupt Gebiete mit niedriger Dichte gebe, vertraute der beteiligte Planer Harrison Price dem Autor in einem Gespräch an: „Walt wollte einen Ort haben, wo seine Freunde wohnen konnten.“ Es war Disney klar, dass manche Leute lieber in Einfamilienhäusern leben und uneingeschränkten Zugang zu ihren Autos haben wollten. Immerhin wurde das Projekt zu einer Zeit entworfen, als der suburbane Lebensstil boomte. Entsprechend dem Gartenstadt-Konzept und der Anlage von Städten wie Radburn, New Jersey, verlaufen die Straßen des Einfamilienhausgebiets hinter den Häusern und sind um Sackgassen herum angeordnet. Die Wohnungstür jedes Hauses wäre zur Grünanlage ausgerichtet, auf der anderen Seite des Parkplatzes. Doch im Gegensatz zu anderen Vororten der fünfziger Jahre würde EPCOT vielfache Nahverkehrsoptionen anbieten, um Bewohner aus diesen Autos zu locken. Für die meisten wären das Fahrrad, kleine elektrische Scooter oder der PeopleMover die hauptsächlichen Beförderungsmittel.
Entertainment und Industrie
Das gesamte EPCOT-Projekt würde knapp 450 Hektar umfassen. Das futuristische Hotel, das u.a. mit einem beinahe drei Hektar großen Freizeitdeck mit Swimmingpools, Bäumen und Wässerfällen aufwartete, sollte seine Ikone werden, genauso wie Dornröschen oder Cinderella Castle es für die Themenparks sind. Die unterschiedlichen Bereiche des „Town Center Entertainment Districts“ wären verschiedenen Teilen der Welt gewidmet. Sie waren wie Blütenblätter strahlenförmig um das Hotel angeordnet, getrennt von den Trassen des erhöht verlaufenden WEDway PeopleMovers. Besucher könnten sich die verschiedenen Viertel vom Zug aus ansehen und dann entscheiden, welches sie erkunden wollten. Masterplaner Marvin Davis zufolge würde jede Themenstraße einen Häuserblock besetzen, der etwa 450 Meter lang wäre. Das Town Center sollte großstädtisches Leben bieten, mit einer Mischung aus sorgfältig kombiniertem Einzelhandel, Gastronomie und hochrangigem Entertainment. Eine Vielfalt von Nutzungen und einige „kleine Überraschungen“ sollten Besucher veranlassen, wiederkommen zu wollen.
Neben den Millionen von Besuchern wäre EPCOT auch die Heimat von 20.000 Einwohnern. Die meisten würden in den vier-bis sechsstöckigen, dicht gesetzten Apartmentblocks rund um das Town Center wohnen. Diese Kombination garantierte dem Einkaufszentrum automatisch das ganze Jahr über eine kritische Masse an Besuchern. Im Immobiliengeschäft dreht sich alles um Zahlen. EPCOT war keine Fantasiestadt. Das Projekt war
in der Realität des Marktes verwurzelt. Walt Disney mag ein Visionär gewesen sein, aber er war auch Geschäftsmann und er hatte vor, Geld zu verdienen.
Der 400 Hektar große Industriepark, strategisch zwischen dem Eingang und der Transportation Lobby gelegen, um Besucher zu locken, hatte sein Vorbild im Stanford Industrial Park (1951) in Palo Alto, California. Die Stanford University hatte das Areal entwickelt, um die an der Universität erarbeiteten Ergebnisse in Wissenschaft und Technik zu verwerten und ihr Ansehen als bedeutende Forschungsinstitution zu steigern. Sie kombinierte dabei zwei Dinge, die eigentlich antithetisch waren: die Industrie und ein Park, womit sie eine neue Kategorie der Landnutzung erfand, die heute als „Industriepark“ bekannt ist. Disney-Historiker Paul Anderson erzählte: „Walt wusste, er konnte seinen Traum von EPCOT nur verwirklichen, wenn er die amerikanische Industrie beteiligte, und dieser Komplex war nur eine von vielen Strategien, um Anreize dafür zu schaffen.“
Jeder Industriepark-Cluster würde aus fünf oder sechs großen zweistöckigen Gebäuden bestehen, die sich gegenüber einem erhöhten PeopleMover-Bahnhof befänden. Die Gebäude hatten die Form von Tortenstücken, deren schmale Seiten dem Bahnhof zugewandt waren. Der Haupteingang von jedem Gebäude führte auf einen gut konzipierten öffentlichen Platz, der den Sockel des Bahnhofs umgab. Auf dem Platz würde sich
im Verlauf des Morgens eine rege Betriebsamkeit entfalten, mit einer Mischung aus Berufstätigen und Besuchern, die die praktisch unter dem Bahnhof angesiedelten Einkaufs- und Gastronomiemöglichkeiten nutzen würden.
Heimisch werden verboten
Disney überzeugte den Gesetzgeber von Florida, der Walt Disney Productions beispiellose Flächennutzungs- und Bebauungsrechte im Verwaltungsbezirk des „Reedy Creek Improvement District“ zu übertragen. Dauerhaftes Wohnen wäre hier nicht erlaubt gewesen. Wie auf einem Kreuzfahrtschiff wohnten Angestellte von Disney und seinen Unternehmenspartnern für eine begrenzte Zeit auf dem Gelände und wären dann gezwungen, umzuziehen. „Es wir keine Grundeigentümer geben“, erklärte Disney. „Leute werden Häuser zu moderaten Preisen mieten, anstatt sie zu kaufen.“ Er fügte hinzu: „Es wird keine Ruheständler geben, da jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten muss. Eine unserer Auflagen ist es, dass die Menschen, die in EPCOT leben, mithelfen müssen, es am Leben zu erhalten.“
Hätte das funktioniert? Die Frage muss unbeantwortet bleiben. Es gab eine Menge Risiken und ungeklärter Fragen. Würden Menschen bereit sein, in einer Modellstadt zu leben? Wie würde Disney mit Erziehungs- und Bildungsfragen umgehen? Gäbe es Schulen? Würde das Projekt sich in die düstere Vision einer Firmenstadt verwandeln, wie Pullman, Illinois oder Fordlandia in Brasilien, wo Großkonzerne vergeblich versuchten, gute Grundherren zu sein und die Arbeiter sich gegen die Bevormundung durch ihren Arbeitgeber auflehnten?
Die Gruppe, die an dem EPCOT-Projekt arbeitete, war sehr klein. Einer, der zu ihr gehörte, war Harrison Price. Er erzählt: „Walt konnte sich geradezu zwanghaft mit einem Problem auseinandersetzen.“ Wenn er eine Idee umsetzen wollte, würde er alle Eventualitäten kalkulieren, Massen an Fachliteratur verschlingen und Experten hinzuziehen. Price schätzt das Konzept und Design von EPCOT als nicht revolutionär, aber evolutionär ein, gegründet auf bewährten architektonischen Technologien und einer durchdachten Nutzungsmischung. EPCOT war so angeordnet, dass die Hotel- und Tagesgäste, die aus einer Richtung kamen, den Bewohnern, die aus einer anderen Richtung kamen, in der Mitte begegnen würden. Dies sollte eine städtische Gemeinschaft schaffen, in deren Anlage bereits die kritische Masse für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg eingebaut war. In Walt Disneys EPCOT sollte jeder in einem bequemen, sicheren und inspirierenden öffentlichen Rahmen interagieren können. Als Price vom Autor gefragt wurde, ob er meint, dass EPCOT funktioniert hätte, erwiderte er: „Absolut. Die Stadt wäre berühmter gewesen als Walt Disney World.“
Statt einer Stadt baute Walt Disney Productions nach Disneys Tod einen Themenpark, Resort-Hotels und eine permanente Weltausstellung. Später erschloss man ein großes Areal an der Südgrenze, um dort die Stadt Celebration zu bauen. Mit wenig Bezug zu Walt Disneys progressiver Vision sollte das Projekt im Stil des New Urbanism das kleinstädtische Amerika evozieren und Häuser zu Höchstpreisen verkaufen. Das Gebiet wurde aus dem Reedy Creek Improvement District ausgegliedert, um Disneys Stimmrecht nicht zu schwächen.

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